Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez
zwinkerte mit üppig getuschten Wimpern.
Der Offizier, Oberleutnant oder was auch immer, unterschrieb mit Tintenschreiber ein knochenweißes Papier mit Wasserzeichen und Prägesiegel, kniffte es zweimal und reichte es mir, als übergäbe er einen stinkenden Lappen, die Plastikkappe des Stifts steckte ihm noch zwischen den Zähnen. Weiß und speichelnass leuchtete sie zwischen gelben Zahnreihen. Währenddessen sprach Ernesto mit der Frau. Er wollte die rote Kugel nicht ziehen, denn es war die letzte, somit ein überflüssiger Akt und keine Überraschung für das Publikum, diese Masse von Abiturienten, die sich alle dasselbe von diesem Unterhaltungsprogramm erhofft hatten: dass der Nachbar rekrutiert wurde. Aber die Frau oder vielleicht ihr Make-up überredeten ihn dazu, hineinzugreifen und die Kugel zu ziehen, und nicht nur dazu. Am nächsten Tag schrillte zur Mittagszeit bei mir das Telefon.
»Junge, hatte die einen Körper«, teilte mir Ernestos sumpfige Stimme mit. »Das hat man ihr in der Uniform gar nicht angesehen.«
Wir trafen uns noch ein paarmal, bis weitere Treffen nicht mehr in unserer Hand lagen. Mit bedenkenloser Leidenschaft und irritierendem Gehorsam trat Ernesto Ende August seinen Dienst in Tolemaida an, bei der Kompanie Ayacucho, Zehnte Brigade. Ayacucho: Diese Kakofonie sagte ihm nichts, war höchstens eine blasse Erinnerung aus der Grundschulzeit. Als Enkel eines eingebürgerten Ausländers, der sich dem Koreakrieg verweigert hatte und daraufhin von einer einflussreichen Zeitung als vaterlandsloser Geselle bezeichnet worden war, und als Sohn eines Vaters, der herangewachsen war, ohne recht zu wissen, wohin er gehörte – auch wenn sein Taufname dem Heiligenverzeichnis entstammte und daher unauffällig war –, wusste Ernesto wenig über Ayacucho im Besonderen oder die Unabhängigkeitskriege im Allgemeinen. Aus Freundschaft fühlte ich mich verpflichtet, seinem Patriotismus auf die Sprünge zu helfen. An einem Sonntag stand ich in aller Frühe auf, machte am Heldendenkmal ein Sofortbild und brachte es ihm nach Tolemaida, in eine Zeitungsseite gewickelt.
Ayacucho
Pichincha
Carabobo
Zwei Kakofonien und zum Abschluss eine verschleierte Beleidigung – Schafsgesicht – waren in den fast schon heiligen Stein der nationalen Unabhängigkeit gemeißelt. Das überreichte ich dem Rekruten Wolf. Es war August, wie gesagt, der Herbstwind blies bereits, und auf den Grünflächen um das Denkmal herum waren Leinen gespannt, an denen Drachen zum Verkauf hingen, geometrische Figuren aus Seidenpapier mit Bambusskelett, die keiner Bergböe standhalten würden. In Tolemaida, das im heißen Flachland lag, wehte kein Wind. In Tolemaida regte sich die Luft nicht, schien sich niemals zu regen. Der Gefreite Jaramillo ließ die Kadetten eine alte Boaschlange schultern, die Dauer entsprach der Schwere ihrer Vergehen; der Gefreite Jaramillo erzählte der Kompanie, als Drohung oder zur Abschreckung, von der einzigen urbanen Legende in dieser ländlichen Gegend, dem Kerker von Cuatro Bolas, wo ein Bauer, ein Ungetüm von Mann, sich mit den Aufmüpfigen gottlos vergnügte. Ein Jahr lang erzählte Ernesto Wolf vom Gefreiten Jaramillo mehr, als er je über einen anderen erzählt hatte. Der Gefreite Jaramillo war verantwortlich für die Reglosigkeit der Luft, für das Fieber, für die Blasen an den Händen, die man bei den Schießübungen vom Gewehrhalten bekam. Er war verantwortlich für die Tränen der jüngeren Rekruten (manche mit vorzeitigem Abitur waren erst fünfzehn), die sich hinter den Schuppen oder in den Waschräumen versteckten und nachts das Gesicht unter dem erstickenden Kopfkissen verbargen. Der Gefreite Jaramillo. Nie erfuhr ich seinen Vornamen, bekam ihn nie zu Gesicht, lernte ihn jedoch hassen. Sonntags, wenn ich Ernesto in der Escuela de Lanceros besuchte oder zu Hause bei den Wolfs in Bogotá, setzte er sich nieder – auf das dürre Gras, wenn der Besuch in Tolemaida stattfand, in Bogotá ans Kopfende des Tischs – und erzählte. Seine Eltern und ich aßen währenddessen, sahen einander an, und gemeinsam hassten wir den Gefreiten Jaramillo. Aber nein, ich irre mich vielleicht: Vater Antonio war nur bei Ernestos Heimurlauben anwesend, er hatte nie einen Fuß in die Escuela de Lanceros gesetzt, wie auch damals nicht in das Teatro Patria.
Als wir an einem dieser Sonntage zusammen im Auto saßen, die Fenster hochgekurbelt (der Staub, der Lärm an der Puente Aranda), und auf den Bus warteten, der Ernesto zum Heimurlaub aus Tolemaida bringen würde, sagte Antonio Wolf, der mich immer mehr ins Herz schloss, plötzlich zu mir: »Aber du hättest nicht gewollt.« Diesen seltsamen Satz sagte er, der unvollständig zu sein schien und es doch nicht war, und nahm dabei nicht die Hände vom Lenkrad, diese Hände eines alten Boxers, eines bayerischen Bauern, die den Neuankömmling nie würden abschütteln können, auch wenn nicht er der Einwanderer gewesen war, sondern sein Vater. Er sprach, ohne mich anzusehen, denn in einem Wagen sieht man sich gewöhnlich nicht an. Wie ein Feuer oder eine Kinoleinwand fesselt die Windschutzscheibe die Blicke, hält sie fest, bannt sie. Deshalb sagt sich in einem Wagen manches leichter.
»Was hätte ich nicht gewollt?«, fragte ich.
»Einfach so weggehen«, sagte er. »Weggehen und deine Zeit verlieren. Aber Ernesto wollte hin. Wozu? Um blödsinnige Schwüre zu lernen und das Schießen mit einem Gewehr, das er sein Lebtag nicht mehr benutzen wird.«
Ich war damals achtzehn. Ich verstand seine Worte nicht, verstand nur, dass Antonio Wolf, ein Mann, den ich respektieren gelernt hatte, ganz offen mit mir sprach und vielleicht auch mich respektierte. Ein Respekt, den ich mir nicht verdient hatte, denn verantwortlich war das Glück, keine Idee, keine Prinzipientreue gewesen, dass ich mich nicht an dem verfluchten Ort befand, wo man blödsinnige Schwüre lernte und das Schießen mit Gewehren, die man nie wieder benutzen würde, wo man jedoch vor allem seine Zeit verlor, die eigene wie die der Eltern, und wo das Leben sich verhedderte.
Und tatsächlich verhedderte sich Wolfs Leben. Siebzehn Tage vor Ende des Militärdiensts starb Ernesto bei irgendwelchen Manövern, deren Bezeichnung ich nicht kenne. Eine Seilrolle gab nach, Ernesto fiel dreißig Meter tief in eine Schlucht zwischen zwei Bergen, sein Körper schlug mit siebzig Stundenkilometern auf die Steine auf, und alle waren sich einig, dass er bereits tot gewesen sein musste, als er auf dem Talboden aufkam, bei einem kleinen Wasserfall, an dem sich die Liebespaare der Gegend treffen, um ihr erstes Mal zu erleben. Ich hätte zur Beerdigung gehen können, tat es aber nicht. Ich beschränkte mich auf einen Anruf, bei den Wolfs war besetzt, und ich versuchte es kein zweites Mal. Stattdessen schickte ich Blumen und einen Brief, in dem ich erklärte, ich sei in Barranquilla, was natürlich eine Lüge war, und ich weiß noch genau, wie unsinnig schwer es mir fiel, mich zwischen Barranquilla und Cali zu entscheiden, die Stadt zu wählen, die wahrscheinlicher klang oder weniger Skepsis erweckte. Ich erfuhr nicht, ob die Wolfs mir geglaubt oder die plumpe Lüge durchschaut hatten. Sie beantworteten den Brief nicht, und ich besuchte sie nach dem Unfall nie mehr. Ich begann Jura zu studieren, wusste jedoch schon nach der Hälfte des Studiums, dass ich niemals in dem Beruf arbeiten würde, denn ich hatte ein Buch mit Erzählungen geschrieben, und mir war klar geworden, dass ich nichts anderes in meinem Leben tun wollte. Ich ging nach Paris. In Paris lebte ich fast drei Jahre. Ich ging nach Belgien. In Belgien verbrachte ich, in der Nähe eines unaussprechbaren Orts in den Ardennen, neun Monate. Im Oktober 1999 zog ich nach Barcelona, im Dezember desselben Jahres lernte ich in den Weihnachtsferien, die ich bei meiner Familie in Kolumbien verbrachte, eine deutsche Frau kennen, die 1936 nach Kolumbien ausgewandert war. Ich stellte ihr Fragen über ihr Leben, über die Flucht ihrer Familie vor den Nationalsozialisten, über das Kolumbien zur Zeit ihrer Ankunft, und sie beantwortete alles mit einer Freimütigkeit, die mir seitdem nie wieder begegnet ist, ich notierte ihre Antworten auf einem kleinen karierten Notizblock, einer von denen mit einem Logo oder einer Textzeile oben am Rand (in dem Fall ein berühmtes italienisches Zitat: Guardati dall’uomo di un solo libro). Jahre später benutzte ich die Aufzeichnungen, die Antworten – das heißt: dieses Leben – für einen Roman.
Der Roman erschien im Juli 2004. Er handelte von einem deutschen Immigranten, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Sabaneta interniert worden war, einem Luxushotel, das die kolumbianische Regierung vorübergehend in ein Internierungslager für feindlich gesinnte Staatsbürger umgewandelt hatte (Feinde Roosevelts, Sympathisanten Hitlers oder Mussolinis). Die Recherchen für den Roman hatten sich als schwierig erwiesen, denn das Thema ist für viele Familien von Bogotás deutscher Gemeinde noch immer heikel, ja tabu. Deshalb erschien es mir umso ironischer, dass nach Veröffentlichung viele Leute auf mich zukamen und mich baten, ich solle doch nun ihnen zuhören, ihre Geschichte erzählen. Noch Monate später erhielt