Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez

Lieder für die Feuersbrunst - Juan Gabriel Vásquez


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konnte J. ein Gleiches tun. Sie standen im Gang mit den Hängematten, jede ein Bier in der Hand. Sie warteten, dass die Köchin zum Abendessen rief. J. hatte es nicht auf die Begegnung angelegt, jedoch die Absicht gehabt, sich am Esstisch neben Yolanda zu setzen. Das war nicht nötig gewesen: Sie traf sie schon hier, wie sie sich Knöchel und Arme mit Mückenschutzmittel einrieb, und bat sie um ein wenig davon. So waren sie ins Gespräch gekommen, anfangs im spärlichen Abendlicht, dann im weißen Schein einer Neonröhre.

      »Ich komme jedes Jahr«, sagte Yolanda. »Natürlich, für mich ist das kein Weg, ich wohne in Yopal. Sie sind aus Bogotá, nicht wahr?«

      »Stimmt.«

      »Hui, das wäre nichts für mich. Viel zu kalt.«

      »Nun, ich reise viel. Das hilft.«

      »Wegen Ihrer Arbeit, oder? Sie sind Fotografin.«

      »Genau.«

      »Und was für eine Art von Fotografie?«

      »Journalismus«, sagte J. »Ich habe jahrelang den Konflikt fotografiert.«

      »Den Konflikt?«

      »Die Gewalt, den Krieg. So bin ich im ganzen Land herumgekommen.«

      »Natürlich«, sagte Yolanda. »Und was waren Ihre Motive? Die Schauplätze?«

      »Die Schauplätze, ja, aber auch die Leute. Die Opfer des Krieges, davon gibt es viele.« Pause. »Seltsam also, dass ich noch nie in diesem Teil der Llanos war.« Pause. »In der Nähe schon, aber hier nicht.« Pause. »Hier hat viel Gewalt geherrscht, nicht wahr?«

      »Ja, damals. Jetzt nicht mehr.«

      »Und Sie hat es nicht betroffen? Auch Ihre Familie nicht?«

      »Inzwischen steht alles viel besser«, sagte Yolanda.

      »Ja, überall«, sagte J. »Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist, durch Gegenden zu reisen, in denen ich vor zehn, zwanzig Jahren wegen eines Massakers oder dergleichen war, und nun zu sehen, wie anders es heute ist. Die Gesichter der Leute verändern sich, wenn sie keine Angst haben. Die Gesichter der Leute sagen so einiges.«

      »Haben die Leute nichts dagegen, dass Sie Fotos von ihnen machen?«

      Von der Küche, einer Terrasse unter freiem Himmel, wo eine dürre schwarze Frau wirtschaftete wie eine ganze Mannschaft, drangen Gerüche und Töpfeklappern herüber. Es würde ein Huhn geben, dass die Galáns am Abend hatten schlachten lassen. J. hatte beim Rupfen zugesehen und sich abgewandt, als die Köchin die Henne auf den Tisch gelegt, beim Genick gepackt und das Messer gezückt hatte.

      »Nein«, antwortete J. »Nun gut, manchmal. Aber sehr selten, denn vorher unterhalten wir uns, lernen uns kennen. Mich macht das immer wütend: die Fotografen, die kommen, um fremde Trauer zu fischen. Ich habe niemals jemanden fotografiert, bevor er mir nicht eine Geschichte erzählt hat.« Pause. »Nehmen wir Sie, zum Beispiel. Wenn ich Fotos von Ihnen machen wollte, würde ich mich erst hinsetzen und mit Ihnen reden, bis Sie mir Ihre Geschichten erzählen. Was Sie erlebt haben. Was der Krieg bei Ihnen hinterlassen hat.«

      Yolanda lachte kurz auf. »Mit mir hätten Sie Ihre Zeit verloren. Ich habe nichts Schlimmes zu berichten.«

      »Natürlich«, sagte J. »Aber das kommt selten vor. Jeder hat etwas zu erzählen.« Pause. »In dieser Gegend der Llanos bin ich, wie gesagt, noch nie gewesen, aber ganz in der Nähe. In Arauca, an der venezolanischen Grenze. Da ging es schlimm zu vor zwanzig Jahren.«

      »Ja? Ich erinnere mich nicht.«

      »Ich habe damals eine Frau kennengelernt. All die schlimmen Jahre ist ihr nichts passiert. Sie hat gesehen, wie Ermordete den Fluss heruntertrieben, hat sie manchmal erkannt, aber weder ihr noch ihrer Familie ist je etwas zugestoßen. Dann hat sie für einen Politiker gearbeitet, zwei, drei Jahre lang, hat ihm vertraut. Sie waren zusammen auf Wahlkampfreise. Sie wurde zu seiner rechten Hand, und ständig hat er ihr gesagt: ›Was würde ich ohne Sie tun? Ohne Sie bin ich erledigt.‹ Etwas in der Art. Eines Tages, in einem Hotel in Bogotá, hat der Chef an ihre Tür geklopft. Sie hat geöffnet, versteht sich, was hätte sie sonst tun sollen? Um sechs Uhr morgens. Das hat mir diese Frau erzählt: dass es um sechs Uhr morgens gewesen war. Ich weiß nicht, warum gerade das so wichtig für sie war.«

      Yolanda blickte in die Dunkelheit oder Richtung Fluss, der lautlos vorbeiglitt, jenseits der Dunkelheit. »Mir scheint, da steht eine Frau am Ufer«, sagte sie.

      J. entgegnete nichts.

      »Neulich haben sie hier in der Nähe eine Pythonschlange gefunden. Wir hatten uns auf der Terrasse unterhalten, wie jetzt wir beide, und da ist einer von den Jungs gekommen. Die Python hatte nach Nahrung gesucht. Dort, am anderen Flussufer hat man sie gefunden, wo die Wälder sind. So ein Schreck, stellen Sie sich vor.«

      J. drehte sich zum Fluss, sah aber niemanden. Von der anderen Terrasse kam jedoch die Schwarze herüber. »Das Essen ist fertig«, sagte sie mit sanftem Lächeln. Ihr fehlten die Schneidezähne.

      Als J. am nächsten Tag packte, nahm sie sich ein paar Minuten Zeit, um ihre Kamera zu reinigen. Vor ihr lagen mehrere Stunden Fahrt bis Bogotá. Sie musste bei der Polizei anrufen und sich über den Zustand der Landstraßen informieren, ob Erdrutsche oder Unfälle gemeldet worden waren oder ob die Stimme sagte, keine Meldungen. Aber draußen schien die Sonne, und der Moment der größten Geschäftigkeit war bereits vorüber, wenn die Arbeiter sich beim Frühstück zu den Gästen gesellen und der Geruch ihrer Arbeitskleidung sich ein paar Sekunden lang mit dem des Kaffees und der Eier mischt. Das Haus lag nun in der flüchtigen Ruhe des späten Vormittags: Alle sind wieder bei der Arbeit, die Gäste sehen sich die Tiere an, und die Galáns sitzen mit einem Lieferanten oder Kunden über ihren Rechnungen oder überschlagen Kosten. J. trat aus ihrem Zimmer, die Kamera in der Hand, und suchte Yolanda. Sie fand sie bei der Siesta in der Hängematte, und ohne zu fragen, machte sie ein Foto von ihr.

      Yolanda schlug die Augen auf. »Was ist?«

      »Verzeihung«, sagte J. »Macht es Ihnen etwas aus?«

      »Gleich hier?«

      »Ja«, sagte J. »Gleich hier, warum nicht?«

      Yolanda lehnte sich wieder zurück. J. gab ihr ein paar Anweisungen, schob eine Bierdose aus dem Bild und ging um die Hängematte herum, auf der Suche nach dem besten Licht, dem besten Winkel. Yolanda schlug die Hände vors Gesicht. Der Auslöser klickte einmal, zweimal. Yolanda fragte: »Macht es etwas, wenn ich weine?«

      »Das macht nichts«, sagte J. »Weinen Sie, so viel Sie wollen.«

      Ernesto Wolf. In der Schule stand sein Name in der Jahrgangsliste unter meinem, auf den in Kolumbien nur selten einer folgt (höchstens ein ausländischer oder einer der ausgefalleneren: Yáñez oder Zapata, Yammara oder Zúñiga). Am Tag der Auslosung für den Militärdienst sorgte die alphabetische Reihenfolge dafür, dass ich vor ihm meine Kugel zog. Im weinroten Samtbeutel lagen nur noch zwei, eine blaue und eine rote, wo eben an die fünfzig gelegen hatten, die Zahl der Schüler, die in diesem Jahr zur Einberufung anstanden. Die rote Kugel würde mich zum Militärdienst schicken, die andere meinen Freund. Ein simples Verfahren.

      Das Spektakel fand im Teatro Patria statt, einem Nebengebäude der Kavallerieschule, wo heute schlechte Filme gezeigt und gelegentlich eine Komödie, ein Konzert oder Zauberkunststücke aufgeführt werden. Wie ein Zauberkunststück, so wirkte unsere Auslosung. Das Publikum bildeten die Abiturienten und einige halbwegs solidarische Lehrer, auf der Bühne drei Schauspieler: ein Oberleutnant mit Gel im Haar, das wie Rauputz wirkte, (beim Dienstgrad bin ich mir nicht sicher, ich habe Schultern, Revers oder Brusttasche nicht mehr vor Augen und ohnehin niemals die Ränge unterscheiden können), eine uniformierte Assistentin und ein Freiwilliger, der widerstrebend zu ihnen hinaufgestiegen war, um an dem Zauberkunststück teilzunehmen und eine Kugel zu ziehen, die ihn vielleicht für ein Jahr aus dem Zivilleben verbannte. Die Assistentin, die nach Naphthalin roch, hielt den Beutel mit den Kugeln. Ich griff hinein, zog die blaue Kugel heraus, und bevor ich mir bewusst geworden war, dass ich meinen Freund verurteilt hatte,


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