Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan

Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan


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ist hier los?«, blaffte George Archer, der hinter seinem Bruder in die Bibliothek kam.

      »Nichts«, antwortete Edward lächelnd. »Unsere kleine Violet war auf der Suche nach ihrem Vater. Sie wollte gerade gehen.«

      »Er ist nicht hier.« George blickte finster auf Violet herab.

      »Ich weiß, das hat mir Edward schon gesagt«, stammelte Violet, dann drehte sie sich um und rannte davon. Irgendetwas an George machte sie furchtbar nervös.

      Erst in sicherem Abstand zum Brillengeschäft wagte sie es, anzuhalten und Atem zu holen.

      Warum wusste Edward Archer von Mrs Moody und den Pillen? Weshalb steckte er seine Nase in ihre Angelegenheiten? Und wieso hatte er wegen Dad gelogen? Sie war sich sicher, dass ihr Dad hinter dieser Tür gewesen war. Und dass er wütend geklungen hatte.

      Weil sie nicht nach Hause wollte, lief sie die Edward Street entlang. In Gedanken ging sie die Ereignisse der letzten Stunden durch. Erst ihre Mutter und die Pillen, dann ihr seltsamer Gesinnungswechsel, die Brille, die Stimme, das merkwürdige Verhalten der Archers und ihr Dad. Irgendwas war mit ihrem Dad.

      Eine Gruppe Frauen stand schwatzend vor der Metzgerei. Als Violet vorbeilief, verstummten sie. Sie hätte schwören können, dass eine von ihnen »AGDS« flüsterte.

      Sie überquerte die Straße vor dem Rathaus und lief an Archers’ Teeladen vorbei, der im Schatten des hohen Gebäudes stand. Das Schaufenster war mit einer Auswahl wunderschöner handbemalter Porzellantassen dekoriert. Violet hielt an, um sich die Tassen näher anzusehen, musste jedoch feststellen, dass sich sämtliche Leute im Geschäft umdrehten und sie anstarrten.

      Schnell eilte sie weiter. Um den Blicken auf der Edward Street zu entkommen, bog sie nach links in die Archers’ Avenue. Am Fuß der hohen Steinmauer erspähte sie eine Bank und setzte sich. Sie musste dringend nachdenken.

      Was ging nur in Perfect vor?

      Violet wusste, dass ihre Mutter ihr nicht zuhören würde. Sie interessierte sich nicht mehr dafür, was Violet dachte. Und auf ihren Dad konnte sie auch nicht zählen. Er würde wütend sein, weil sie bei den Archers herumgeschnüffelt hatte – bestimmt würde Edward ihm davon erzählen. Ihr Dad legte großen Wert auf gute Manieren und sie hatte sich Edward Archer gegenüber alles andere als höflich verhalten.

      Sie sah hoch. Hier war sie neulich schon gewesen.

      An der Hauswand gegenüber hing das Schild mit der Aufschrift: Geburtshaus der ehrenwerten Herren George und Edward Archer, der höchsten Söhne von Perfect, über dem die Worte und William eingeritzt worden waren.

      Sie fragte sich, ob William Archer seinen Namen selbst in das Schild und unter ihr Pult geritzt hatte. Wenn ja, schien er genau die Art von Unruhestifter zu sein, für die alle sie hielten. Warum hatte sie noch nie zuvor von ihm gehört? Hatte er Perfect vielleicht verlassen, weil er die Stadt genauso hasste wie sie?

      Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was war mit William Archer geschehen?

Kapitel 9

      Iris Archer

      Violets Herz setzte einen Schlag aus. Hinter dem Fenster gegenüber stand dieselbe alte Frau wie neulich und beobachtete sie. Hastig wandte Violet den Blick ab. Als sie es wagte, wieder hinzusehen, war die Frau verschwunden.

      Einige Minuten später ging die Haustür nahezu geräuschlos auf und die alte Frau kehrte an ihren Platz am Fenster zurück.

      War das eine Einladung? Bat sie Violet herein?

      Violet stand auf und ging auf das Haus zu. Vor der offenen Tür blieb sie stehen.

      »Hallo?«, rief sie.

      Als keine Antwort kam, trat sie vorsichtig ein.

      Das Innere des Hauses wirkte beinahe perfekt, doch genau wie an seiner Außenseite gab es ein paar Kleinigkeiten, die nicht recht ins Bild passen wollten. Der Boden war ein bisschen uneben und knarrte beim Drübergehen. Das einzige Licht fiel von außen durch die schmutzigen Spitzengardinen herein und alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Es sah aus, als hätte hier schon lange niemand mehr sauber gemacht, was seltsam war, wo Putzen hier in Perfect doch fast wie eine olympische Sportart betrieben wurde.

      Auf der linken Seite stand eine der Türen einen Spaltbreit offen.

      »Hallo?«, wiederholte Violet, als sie den Kopf hindurchsteckte.

      Die alte Frau saß auf ihrem Platz am Fenster, ihr Körper verschwand halb im Schatten.

      »Sie haben die Tür aufgemacht«, sagte Violet und wagte sich einen weiteren Schritt vor.

      »Ja.«

      »Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«

      »Nein«, krächzte die alte Frau.

      Ihr weißes Haar erinnerte entfernt an ein Vogelnest. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, unter dessen Spitzensaum ihre knochigen nackten Füße hervorragten. Sie hatte ein freundliches Gesicht, doch ihre Augen wirkten traurig.

      »Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«, erkundigte sich Violet.

      Statt zu antworten, drehte die alte Frau sich wieder zum Fenster um. Die Erkenntnis traf Violet wie ein Schlag.

      »Sie tragen gar keine Brille!«, platzte sie heraus.

      »Augen brauchen keine Gläser, um zu sehen«, erwiderte die Frau. »Sie sind das Fenster zu meiner Seele, warum sollte ich sie da verschleiern?«

      »Aber …«, stammelte Violet, »macht die Sonne Sie denn nicht blind?«

      »Es heißt Söhne. Sie sind es, die mich beraubt haben.«

      Violet machte noch einen vorsichtigen Schritt ins Zimmer hinein.

      »Augen krank«, krächzte die alte Frau warnend. »Augen krank. Die Söhne machen die Augen krank. Iris Archer, sagen sie, der Sohn da taugt nix. Ich hab ihn vor Arnold beschützt, meinen William, mein Äpfelchen. Dann haben Ed und Georgie ihn vor Neid aufgefressen.«

      »William Archer?«, hakte Violet nach. »Ist er Ihr Sohn? Was ist mit ihm passiert?«

      »Mein Sohn, mein Mond und meine Sterne.« Iris’ Augen füllten sich mit Tränen.

      »Tut mir leid«, sagte Violet. »Ich wollte Sie nicht aufregen.«

      »Er ist nicht hier«, fuhr Iris fort. »Sie sagen, er war wild und aufsässig, eine unstete Seele, aber ich wusste, dass das seine Lebensfreude war. Ein Kind ohne Lebensfreude ist wie ein Himmel ohne Sterne. Er hatte Sterne, mein William. Eine Welt voller Sterne. Gehst du auch auf seine Schule?«

      Violet zuckte etwas ratlos mit den Schultern.

      »Ich weiß nicht, kann sein. Ich bin aber auch neu hier. Mein Dad arbeitet für George und Edward. Das sind doch auch Ihre Söhne, oder?«

      »George und Edward, Edward und George? Sie haben mir das Licht meiner Augen gestohlen. Sie sind wie ihr Vater. Ordnung, alles muss immer in Ordnung sein.«

      Violet wich in Richtung Haustür zurück. Die alte Frau war offensichtlich verrückt und sie wollte sie nicht noch mehr aufwühlen.

      »Ähm … ich muss gehen, meine Mam hat schon den Tee aufgesetzt. Es gibt Risotto«, brabbelte sie zusammenhanglos.

      »Du darfst den Tee nicht trinken!« Iris schoss aus ihrem Stuhl hoch und kam in erstaunlichem Tempo auf Violet zu. »Hör auf mich, trink auf keinen Fall den Tee!«

      »Äh … okay, mach ich nicht, versprochen«, stammelte Violet und stolperte rückwärts.

      Sie hatte fast schon die Tür erreicht, als die alte Frau weitersprach. Diesmal klang sie nicht mehr ganz so durchgeknallt.


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