Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
Lehrerin, Mrs Moody, war klein, kugelrund und uralt. Sie trug die gleiche goldgeränderte Brille wie alle in Perfect und dazu einen blauen Rock, eine rote Strickjacke und eine weiße Bluse. Auch sie strahlte dieses merkwürdige Schimmern aus.
»Violet, Liebes«, sagte sie, als die Rektorin den Raum verlassen hatte, »setz dich. Dort hinten ist noch ein Tisch frei.«
Violet lief nach hinten in die letzte Reihe und nahm ihren Platz zwischen einem Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und einem lockigen Jungen ein. Beide lächelten ihr zu, als sie sich setzte.
»Kinder, sagt Hallo zu Violet.«
»Hallo, Violet«, sagte die Klasse im Chor.
Violet errötete. Dann bat Mrs Moody sie, aufzustehen und von ihrem Leben vor Perfect zu erzählen. Alle hörten aufmerksam zu. Niemand kaute auf seinem Bleistift, tuschelte mit seinem Nachbarn oder rutschte gelangweilt auf seinem Stuhl herum. Als sie fertig war, gab die Lehrerin den anderen ein paar Aufgaben und kam an Violets Tisch, um mit ihr zu reden.
»Liebes«, flüsterte sie, »bei uns muss jeder neue Schüler einige Tests durchlaufen, damit wir wissen, wo er oder sie am besten hineinpasst.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Violet. Sie passte nirgendwo hinein.
»Keine Angst, das ist nichts, weshalb du dir Sorgen machen müsstest. Wir verschaffen uns nur einfach gerne ein Bild von all unseren Schülern. Damit wir wissen, auf welchem Wissensstand du bist und ob es irgendwelche Störungen – ich meine, Probleme – gibt, auf die wir achten sollten.«
»Oh, ach so, nein, Mrs Moody, ich habe keine Probleme.« Violet setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf.
»Ich meine auch nicht Probleme im eigentlichen Sinne, Liebes. An unserer Schule haben wir uns zum Ziel gesetzt, den perfekten Schüler auszubilden. Nicht alle unserer Kinder sind bereits perfekt, wenn sie zu uns kommen. Nimm zum Beispiel Michael dort«, sie zeigte auf einen blonden Jungen, der ganz in seine Matheaufgaben vertieft war, »er war furchtbar leicht abgelenkt und konnte keine Minute still sitzen. Aber das haben wir ihm schnell abgewöhnt und jetzt ist er der perfekte Musterschüler.«
»Ich kann gut still sitzen«, beteuerte Violet. Der Tonfall ihrer neuen Lehrerin gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Natürlich, Violet, Liebes, da bin ich mir sicher. Aber es gibt noch viele andere Beeinträchtigungen, mit denen Schüler zu kämpfen haben können. Wir hatten schon welche, die sich Geschichten ausgedacht haben, andere haben den ganzen Tag vor sich hin gezeichnet und wieder andere, so wie unser Michael, konnten partout nicht still sitzen. Die Liste ließe sich ewig weiterführen. Gut möglich, dass du keinerlei Probleme hast, aber das müssen wir erst noch herausfinden. Keine Sorge, es dauert nicht lange.«
Im Handumdrehen hatte Mrs Moody ein Blatt Papier vor Violet auf den Tisch gelegt und hielt ihr einen Bleistift hin. Violet sah den Bleistift an, dann ihre Lehrerin, die aufmunternd nickte und lächelte.
»Nimm nur, Liebes.«
Violet streckte die Hand aus und griff nach dem Stift.
»Aha, Linkshänderin. Dachte ich mir.« Die Lehrerin schnalzte missbilligend mit der Zunge, bevor sie zurück nach vorne ging.
Verwirrt senkte Violet den Blick auf den Zettel vor ihr.
Frage 1: Wie heißt du?
Sie verkniff sich ein Lachen, als sie das Feld ausfüllte. Das war ja kinderleicht.
Aber die folgenden Fragen wurden immer bescheuerter:
Wie hieß dein erstes Haustier?
Besuchst du deine Großmutter oft?
Wozu musste die Schule das alles wissen?
Dann wurde es noch seltsamer:
Hast du jemals das Bedürfnis verspürt, von zu Hause wegzulaufen?
Stellst du Erwachsene infrage?
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Als es zur Teepause klingelte, hatte sie erst einen Teil des Fragebogens ausgefüllt.
Eine alte Frau, die ihr weißes Haar zu akkuraten Locken eingedreht hatte, schob einen Servierwagen ins Klassenzimmer. Darauf stand ein großer silberner Behälter mit dem Logo von Archers’ Teeladen.
Alle legten ihre Stifte weg und holten eine Tasse aus den Fächern unter ihren Tischen. Sie stellten sich in einer Reihe auf und füllten ihre Tassen nacheinander mit Tee, indem sie an einem Hebel auf der Seite des Behälters zogen.
»Hast du keine Tasse mitgebracht, Violet?«, fragte Mrs Moody, die plötzlich vor ihrem Tisch aufgetaucht war. »Nimm die hier.« Bevor Violet etwas erwidern konnte, hatte sie ihr bereits die Tasse in die Hand gedrückt. »Hier in Perfect lieben wir Tee!«
Violet betrachtete den dunkelblauen Keramikbecher in ihrer Hand. Über dem Schriftzug Archers’ Tee – der perfekte Tee für eine perfekte Stadt grinsten ihr die Gebrüder Archer entgegen. Am liebsten hätte sie das Ding aus dem Fenster geworfen, entschied sich jedoch dagegen. Immerhin war der Tee so ziemlich das Einzige, was sie an Perfect mochte.
Sie trank ihre Tasse leer und wandte sich wieder dem Fragebogen zu. Die Fragen wurden noch merkwürdiger.
Hast du schon mal ein Geheimnis gehabt? Wenn ja, bitte beschreibe es.
Magst du Kunst? (Dazu zählen Zeichnen, Malen, Singen, Schreiben und andere Formen, deinem Inneren Ausdruck zu verleihen.)
Als die Mittagspause anbrach, wusste Violet kaum noch, wo ihr der Kopf stand. Sie konnte es nicht erwarten, endlich draußen spielen zu können.
Sie fügte sich in die Reihe ihrer Klassenkameraden ein und folgte ihnen hinaus auf den Schulhof. Eine graue Mauer diente als Begrenzung des Hofs. Ringsum war eine lange Holzbank daran festgeschraubt.
Die Schüler gingen allesamt auf die Bank zu, suchten sich einen Platz, öffneten ihre Brotdosen und fingen an zu essen.
Die Sonne schien, doch alles um sie herum war grau. Es herrschte kein Leben auf dem Schulhof, nirgends war Geschrei, Rufen oder Lachen zu hören, was an ihrer alten Schule völlig normal gewesen war. Niemand rannte, niemand spielte Fußball oder Fangen, niemand tat irgendwas. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ihre alten Freunde jetzt wohl machten, und suchte sich einen freien Platz auf der Bank.
Nachdem sie mit dem Essen fertig waren, klappten die Kinder nach und nach ihre Brotdosen zu und standen auf. Eine Gruppe malte Hüpfkästchen auf den Boden, während eine andere ein langes Springseil hervorzog. Vielleicht spielten sie hier ja doch!
»Hallo, Violet.«
Sie war gerade dabei, ihre Brotdose zu schließen, als ein rothaariges Mädchen aus ihrer Klasse vor ihr auftauchte.
»Ich bin Beatrice«, stellte sich das Mädchen vor. »Hast du Lust, mit uns Seil zu springen?«
»Oh, ähm … ja, klar, sehr gerne!«
Beatrice lächelte und Violet folgte ihrer neuen Freundin zu der Gruppe, die sich um das lange Seil versammelt hatte.
»Habt ihr Violet schon kennengelernt?«, fragte Beatrice. »Sie ist neu hier, heute ist ihr erster Tag.«
»Hallo, Violet«, sagte die Gruppe im Chor. Alle lächelten sie höflich an.
»Wer möchte als Erstes das Seil halten?«, fragte Beatrice.
Violet trat vor, doch das rothaarige Mädchen hob abwehrend die Hand.
»Noch nicht, Violet. Du musst erst lernen, wie man das Seil richtig schwingt.«
Violet errötete und zog sich in den Schutz der Gruppe zurück. Sie wusste, wie man ein Springseil schwang. Als es losging, stellte sich ein Mädchen nach dem anderen unter das herumwirbelnde Seil, sprang genau drei Mal und machte dann Platz für die Nächste in der Reihe. Niemand lachte oder scherzte und die Regeln schienen sehr streng zu sein.