Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
gehe eben deine Mutter und deinen Vater holen, Liebes«, rief Edward Archer ihr zu, während er sich bereits entfernte.
Stille legte sich über den Laden.
Manchmal mochte es Violet, wenn es ganz still war, aber nicht in diesem Moment. Wenn man blind war, hatte Stille etwas Beängstigendes. Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und schlenkerte mit den Beinen, während sie krampfhaft versuchte, sich an ein fröhliches Lied zu erinnern.
Plötzlich hörte sie, wie schnelle Schritte den Laden durchquerten und eilig auf sie zukamen – was sie daran erkannte, dass sie immer lauter wurden. Sie drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs.
»Ich muss mit deinem Dad reden«, flüsterte ihr jemand ins rechte Ohr.
»Wer ist da?«, fragte sie atemlos.
Schwerere Schritte kamen in den Laden. »Hab ich dich, du räudige Waise!«, keuchte eine andere Stimme.
Es folgte eine wilde Jagd. Jemand rannte hinter Violets Stuhl, hielt sich für einen Moment daran fest und kippte ihn dadurch beinahe um, dann stürmten die Schritte (die schweren wie auch die leichteren von davor) wieder nach draußen und verklangen in der Ferne.
»Wer ist da?«, rief sie noch einmal, während sie sich mit beiden Händen krampfhaft an den Armlehnen ihres Stuhls festkrallte.
»Violet, was machst du denn hier?«
Diese Stimme kannte sie. Sie gehörte George Archer.
»Jemand war hier im Laden! Und dann hat jemand anderes ihn gejagt!«
»Ach ja?«, erwiderte er. Er klang beunruhigt. »Hast du sie gesehen? Wie sahen sie aus?«
»Nein«, antwortete sie schnell. »Ich kann nichts sehen, aber ich hab sie gehört. Einer von ihnen hat mir was ins Ohr geflüstert!«
»Ach herrje«, sagte George Archer lachend, »du bist jetzt schon blind? Wenn man sein Augenlicht verliert, spielt einem das Gehör manchmal Streiche.«
»Nein, es war wirklich jemand hier. Ich hab mir das nicht bloß eingebildet, das schwöre ich«, beharrte Violet.
»Da war niemand«, widersprach George schroff. Damit war das Gespräch beendet.
Im Laden ertönten vertraute Stimmen.
»Mam, bist du das?« Violet lehnte sich aus ihrem Stuhl.
Jemand packte sie bei den Schultern und zog sie zurück.
»Hier gibt es jede Menge Glas, das zu Bruch gehen kann, Violet, Liebes«, knurrte George Archer hinter ihr.
»Violet, keine Angst, Mäuschen, wir sind ja hier«, erklang Dads beruhigende Stimme irgendwo links von ihr.
Sie wollte etwas erwidern, doch sie konnte nicht. Ihr Schweigen hing einen Moment lang in der Luft, dann ergriff Edward Archer das Wort. »Fangen wir mit dir an, Violet«, sagte er. Es klang, als stünde er direkt vor ihr. »Ich hoffe, die hier sitzt. Wenn nicht, können wir sie noch anpassen. Du hast einen ungewöhnlich großen Kopf für dein Alter.«
Violet zuckte zusammen und schloss die Augen, als ihr eine Brille recht unsanft auf die Nase geschoben wurde. Warme, verschwitzte Hände umfassten ihr Gesicht und rückten das Gestell zurecht. Die Bügel fühlten sich ziemlich klobig an und drückten hinter den Ohren.
»So«, meinte Edward schließlich, »dann erzähl uns doch mal, was du siehst.«
Violet hielt den Atem an. Was, wenn sie immer noch blind war? Langsam öffnete sie die Augen und schnappte nach Luft.
Farben füllten ihr Blickfeld: sattes Braun von den glänzenden dunklen Holzoberflächen an den Wänden, tiefes Rot von dem dicken Teppich unter ihren Füßen und leuchtendes Gold von den unzähligen Brillengestellen, die in den funkelnden Glasvitrinen auslagen. Es war das eleganteste Geschäft, das sie je gesehen hatte.
»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Edward.
»Nein, nein«, stammelte Violet, während sie sich umschaute. »Es ist nur … so was wie das hier hab ich noch nie gesehen. Das ist fantastisch!«
Die Brüder wechselten einen stolzen Blick.
»Wir geben unser Bestes«, antwortete Edward mit einem selbstgefälligen Grinsen.
Violet setzte sich wieder und beobachtete, wie die Zwillinge in den Vitrinen nach geeigneten Brillen für ihre Eltern suchten.
Die Gestelle waren alle gleich: rechteckig, mit einem schmalen Goldrand und rosafarbenen Gläsern. Nur die Bügelenden hinter den Ohren passten nicht so recht dazu. Sie waren breit, eckig und irgendwie klobig, ganz anders als die filigranen Gestelle. Violet rückte ihre Brille zurecht. Die Bügel drückten unangenehm gegen ihren Kopf.
»Lass schön brav die Finger davon«, knurrte George, als er sie ertappte, wie sie an ihrer Brille herumfummelte.
Violet setzte sich auf ihre Hände und sah eine Weile zu, wie die Archers um ihre Eltern herumschwirrten. Als sie sich sicher war, dass die Zwillinge nicht länger auf sie achteten, glitt sie leise von ihrem Stuhl und begann, sich umzusehen.
Alles in dem Geschäft glänzte und funkelte. In den goldenen Knäufen der Glasvitrinen, die die gesamte Wand vor ihr ausfüllten, konnte sie sogar ihr Spiegelbild erkennen. Edward Archer hockte mit dem Rücken zu ihr auf einer hohen Leiter, um eine Brille aus einem der oberen Fächer zu holen.
Links von ihr war eine holzverkleidete Wand. Violet bemerkte einen feinen Lichtstrahl, der durch einen Spalt im dunklen Holz fiel. Sie ging darauf zu und drückte sanft gegen das auf Hochglanz polierte Paneel. Es schwang auf und gab den Blick auf einen versteckten Raum frei.
Als sie eintrat, fand sie sich in einer Bibliothek wieder. Regale aus dunklem Holz, in denen sich ein Buch ans andere reihte, säumten die Wände. Die Bücher waren alt. Einige waren so abgegriffen, dass es unmöglich war, den Titel zu entziffern. Solche Bücher liebte ihr Dad. Er fand, sie erzählten nicht nur die Geschichte, die in ihnen stand, sondern auch die der Leute, denen sie vorher gehört hatten. Ihrer Mam zufolge bedeutete das bloß, dass sie gebraucht waren und komisch rochen.
Violet zog einige Bände heraus, erst Eine optische Illusion, dann Der blinde Taschenspieler und schließlich Die Seherin. Sie wollte gerade nach dem nächsten greifen, als hinter ihr eine Stimme ertönte.
»Denk nicht mal daran.«
Sie fuhr herum und erstarrte. Vor ihr stand George Archer.
»Hier in Perfect erwarten wir perfektes Betragen!«, blaffte er.
»Da bist du ja, George.« Edward Archers lächelndes Gesicht erschien in der Tür. »Wie ich sehe, hast du Violet gefunden. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, Liebes.«
Violet stürmte an Edward vorbei zurück in den Laden und suchte hinter dem Stuhl ihrer Mutter Schutz. Von dort beobachtete sie, wie die Brüder damit fortfuhren, ihren Eltern Brillen anzupassen.
Seltsamerweise wirkte Edward gar nicht mehr so klein wie vorher. Sein Kopf war nicht mehr so groß und seine Augen standen nicht länger hervor. George hatte sich ebenfalls verändert. Er schien nicht mehr ganz so absurd groß zu sein. Seine Augen passten zu seinem Gesicht und seine Arme und Beine waren viel weniger dürr und schlangenartig. Er konnte sogar stehen, ohne den Kopf schief zu legen. Für sich genommen waren es nur kleine Veränderungen, aber alle zusammen sorgten dafür, dass die Archers irgendwie weniger hässlich aussahen. Sie wirkten beinahe nett. Was allerdings nicht bedeutete, dass Violet anfing, sie zu mögen.
Ihre Eltern trugen nun auch Brillen mit goldenem Rahmen. Rose sah bezaubernd aus, aber sie war immer schon bildschön gewesen, das sagte jeder. Insgeheim hoffte Violet, dass über sie eines Tages auch so geredet werden würde. Ihr Dad sah ebenfalls toll aus – selbst sein Haar wirkte irgendwie voller. Die beiden waren das perfekte Paar, warum war ihr das zuvor nie aufgefallen?
»Violet«, sagte ihre Mam, als sie den Laden verließen, »diese Brille steht dir wirklich