Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
ihren Rundgang beginnen und Boy konnte es sich nicht erlauben, noch einmal außerhalb der Mauern erwischt zu werden. Er beschloss, früh am nächsten Morgen zurückzukommen und dann mit dem Doktor zu sprechen.
Bevor er ging, warf er einen letzten Blick durchs Fenster. Das Mädchen saß zwischen seiner Mam und seinem Dad – eine richtige Familie. Der Anblick versetzte Boy einen schmerzhaften Stich. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu dem abgegriffenen Stück Papier in seiner Tasche.
Stummer Protest
Violet schrak hoch, als das Auto knirschend auf dem Kies zum Stehen kam. Draußen war es bereits dunkel. Sie stemmte sich aus dem warmen Ledersitz hoch und lugte durchs Seitenfenster. Das Haus war groß, viel größer als ihr altes, und sah aus wie aus einem Magazin. Drinnen brannte Licht.
Erschrocken zog sie den Kopf ein.
Zwei dunkle Gestalten, eine groß und eine klein, standen im hellen Rechteck der offenen Haustür. Violets Vater zog den Zündschlüssel ab und warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu, dann schnallte er sich ab und stieg schwungvoll aus.
»Ah, Mr und Mr Archer«, sagte er, während er auf die Männer zuging, »wir haben gar nicht mit einem Empfangskomitee gerechnet.«
»Aber das ist doch selbstverständlich, Doktor Brown«, antwortete der Große und streckte seine Hand aus. »Wir wollen schließlich sicherstellen, dass Sie sich wie zu Hause fühlen.«
»Wir waren den ganzen Tag mit den Vorbereitungen beschäftigt. Das Haus ist blitzeblank und der Kessel steht schon auf dem Herd«, ergänzte der Kleine und schob sich vor den Großen, um ihrem Vater die Hand zu schütteln. »Lassen Sie Ihre Sachen erst mal im Auto und kommen Sie herein. Sie müssen erschöpft sein. Eine Tasse Tee wird Ihnen sicher guttun.«
»Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Violets Mutter, als sie dazutrat und die beiden Männer ebenfalls begrüßte. »Eine Tasse Tee wäre jetzt wirklich toll.«
Die vier gingen ins Haus. Wutschäumend blieb Violet im Auto sitzen – sie hatten sie anscheinend völlig vergessen.
»Violet. Komm ins Haus, Mäuschen, es wird kühl da draußen«, rief ihr Vater ihr über die Auffahrt hinweg zu.
Er hatte sie also doch nicht vergessen. Was aber trotzdem nicht bedeutete, dass er sich dafür interessierte, wie es ihr ging. Für ihn zählte einzig und allein dieser Job. Als er das Angebot erhalten hatte, hatte ihre Mutter gesagt, es sei eine außergewöhnliche Gelegenheit. Das war wahrscheinlich so, als hätte er den Oscar für Optiker gewonnen. Die genauen Worte ihres Dads lauteten: »Es wäre dumm von mir, die Stelle nicht anzunehmen. Unbeschreiblich dumm.«
Ihr Dad war Optha… Ophmal… Ophthalmologe, was ein schickes Wort für Augenarzt war und bedeutete, dass er den ganzen Tag Augen operierte. Violet fand die Vorstellung gruselig, deswegen antwortete sie jedes Mal, wenn sie jemand danach fragte, er sei Optiker. Seine Arbeit war ihm enorm wichtig. Andere Eltern schienen sich ständig darüber zu beklagen, wie sehr sie ihre Jobs hassten, doch nicht ihr Dad. Violet war stolz auf ihn, aber das hieß noch lange nicht, dass sie glücklich darüber war, all ihre Sachen zusammenpacken und ihre Freunde verlassen zu müssen, nur weil er eine neue Stelle hatte. Sie fand das extrem egoistisch von ihm und das hatte sie ihm auch unter Tränen gesagt, als er verkündet hatte, dass sie umziehen würden.
Sie drückte die schwere Autotür auf, lugte hinaus und sah sich nach links und rechts um.
Die Auffahrt war dunkel und von hohen Bäumen umgeben. Lange, knorrige Äste schwankten im Wind und ließen ihre Schatten auf dem Kies tanzen. Violet schauderte, als die Blätter zu flüstern begannen. Hastig zog sie den Kopf zurück und schlug die Autotür zu. Hier drinnen war sie wenigstens sicher.
Ihre Mam sagte immer, Violet habe eine überbordende Fantasie. Violet wünschte, sie könnte ihre Fantasie ein wenig unterbordender machen, während sie durchs Autofenster in den dunklen Garten hinausschaute. Unwillkürlich stellte sie sich all die vielen Monster vor, die zwischen den Bäumen auf sie lauerten.
Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als zu rennen. Sie holte tief Luft. Auf drei. »Eins, zwei, dreiiiii …«
Violet stieß die Autotür auf, sprang hinaus und sprintete zum Haus. Ohne sich umzublicken, stürmte sie die Treppe hinauf und huschte über die Türschwelle.
Als sie die schwere Eingangstür hinter sich zuknallte, glaubte sie, zwischen den Bäumen leises Gelächter zu hören. Sie glitt an der Wand hinab zu Boden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Lachen hatte sie sich doch sicher nur eingebildet. Oder? In dem Moment fiel die Autotür ins Schloss. Violet erstarrte. War dort draußen jemand? Ihr Herz schlug schneller.
»Violet, bist du das, Mäuschen?«, rief ihre Mutter aus einem Raum auf der anderen Seite der Diele. »Komm her und sag unseren Gästen Hallo.«
Violet schüttelte die dunklen Gedanken ab. Das war alles bestimmt nur der Wind. Und dann ist deine Fantasie mal wieder mit dir durchgegangen, wies sie sich selbst zurecht, während sie sich hochrappelte.
Sie streifte die Schuhe ab und ließ sie neben der Tür fallen. Die Diele war mit glänzenden cremeweißen Fliesen ausgelegt. Perfekt für Socken. Violet nahm Anlauf und schlitterte mit Schwung in den Raum auf der anderen Seite der Diele. Erst am Küchentisch kam sie zum Stehen.
Vier Augenpaare starrten sie entgeistert an, zwei davon peinlich berührt, zwei zutiefst schockiert.
»Violet!«, schimpfte ihr Vater. »Wir haben Besuch.«
Violet antwortete nicht.
Sie hatte am Abend zuvor beschlossen, dass sie so lange nicht mit ihrem Vater reden würde, bis er seinen Fehler einsah und sie wieder nach Hause zogen. Das fiel ihr wirklich nicht leicht, denn sie liebte ihren Dad über alles. Aber sie wollte nun mal nicht das Gleiche wie er. Und ihre Mam ehrlich gesagt auch nicht. Rose Brown arbeitete als Buchhalterin in einer großen Firma und hatte jede Menge Freunde in ihrer alten Heimatstadt – doch sie hatte Violet klargemacht, dass man manchmal das Richtige tun musste, obwohl es schwer war und man es eigentlich nicht wollte. Und dass dieser Umzug das Richtige für ihre Familie war.
Violet hatte mit dem Gedanken gespielt, auch mit ihrer Mam nicht mehr zu sprechen. Aber als Einzelkind hätte sie dann gar niemanden mehr zum Reden gehabt – jedenfalls so lange, bis es ihr gelang, neue Freunde zu finden.
Ihr Dad überbrückte die Stille, indem er sie den beiden fremden Männern vorstellte, die am Küchentisch saßen.
»Violet, das ist Mr George Archer.«
»Nenn mich ruhig George«, sagte der große Mann und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln.
Sie bemühte sich, nicht zu lachen. George Archer war so groß, dass er in der niedrigen Küche nicht aufrecht stehen konnte. Er musste den Kopf schräg zur Seite legen, wodurch er beinahe seine Schulter berührte. Alles an ihm war lang – von den schlangenartigen Armen und Bandwurmfingern bis hin zu seiner bleistiftdünnen Nase, die sein Gesicht förmlich in zwei Hälften zu schneiden schien. Sein Kopf war so glatt und weiß wie ein frisch gelegtes Ei. Da diese Haltung sichtlich unbequem war, setzte er sich schnell wieder.
»Und ich bin Edward. Freut mich, dich kennenzulernen, Violet.« Der Kleinere der beiden stand nun auch auf, um ihr die Hand zu geben.
Wieder musste sie sich ein Lachen verkneifen. Mr Edward Archer war ungefähr genauso groß wie sie und dabei war sie nicht mal die Größte in ihrer bisherigen Klasse. Was ihm an Länge fehlte, machte er in der Breite wieder wett. Seine Figur erinnerte an einen Laib Brot. Sein Kopf saß direkt auf seinen Schultern, als hätte er vergessen, sich einen Hals wachsen zu lassen, und seine Augen standen leicht hervor, als versuchten sie, aus seinem Gesicht zu entkommen.
Die beiden Brüder trugen die gleichen braunen Anzüge und auf Hochglanz polierten Schuhe,