Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
Hut – Melone hießen die Dinger, fiel Violet wieder ein –, doch seiner lag vor ihm auf dem Tisch. Vermutlich hatte er ihn abgenommen, weil er ihm jedes Mal vom Kopf gestoßen wurde, wenn er drinnen aufstand.
Außerdem trugen beide Männer Brillen mit rechteckigen Gläsern und Goldrand. Ihre Augen dahinter schimmerten merkwürdig rot. Es sah ein bisschen unheimlich aus, fand Violet, doch dann nahm George seine Brille ab.
»Ach so, das liegt nur an den Gläsern. Ich dachte schon, mit Ihren Augen stimmt was nicht!« Violet lächelte den großen Mann an. »Warum sind die rot?«
George Archer setzte seine Brille wieder auf. »Die Farbe nennt sich Rosé«, brummte er missmutig. »Wir …«
»Nun, Violet, Liebes«, unterbrach Edward Archer seinen Bruder schnell, »das ist eine verrückte Geschichte. Wir hoffen, dass dein Dad uns helfen wird, eine Lösung zu finden. Weißt du, unser Städtchen ist nahezu perfekt, bis auf eine merkwürdige Ausnahme: Jeder hier trägt eine Brille. Schon nach kurzer Zeit in Perfect werden auch du und deine Eltern feststellen, dass sich eure Sicht trübt. Dann werden die Ränder eures Blickfelds verschwimmen und schließlich werdet ihr vollkommen blind. Wir hatten schon zahlreiche Wissenschaftler hier, die versucht haben, eine Erklärung dafür zu finden. Sie meinen, das kommt daher, dass wir so nah an der Sonne sind.«
»Mam!« Violets Stimme zitterte. Sie bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen. »Ich will nicht blind werden. Ich mag es, sehen zu können. Wir hätten niemals hierherziehen sollen, ich wusste es.«
»Ach herrje, ich wollte dir keine Angst machen, Violet, Liebes«, beschwichtigte Edward Archer sie. »Ich versichere dir, die Wirkung ist nur vorübergehend. Sie lässt nach, sobald ihr unser Städtchen verlasst – obwohl ich davon ausgehe, dass ihr das nicht tun werdet. Bis jetzt wollte hier noch niemand je wieder weg.« Der stämmige Mann lächelte. »Im Übrigen haben wir einen geschickten Weg gefunden, unser kleines Problem zu umgehen. Diese Brillen wirken wahre Wunder. Du wirst merken, dass sie wirklich jeder hier trägt. Sie sind ziemlich trendy, wie man so schön sagt.« Er rückte seine Brille zurecht.
»Am besten kommst du ganz bald in unserem Brillengeschäft vorbei, Liebes, dann passen wir dir dein eigenes Modell an«, ergänzte George Archer mit einem Lächeln.
Violet krallte sich am Nadelstreifenrock ihrer Mutter fest.
»Ich will aber keine Brille, Mam, mit meinen Augen ist alles in Ordnung.«
»Deswegen ist dein Vater ja hier, Liebes«, sagte Edward lächelnd. »Mit seiner Hilfe braucht hoffentlich bald niemand mehr eine Brille.«
Die Archers waren die neuen Chefs ihres Dads.
»Eugene ist von einem Headhunter angeworben worden«, hatte ihre Mam ihren Freunden eines Abends stolz erzählt. Violet fand, dass das beunruhigend klang. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie ihr Dad mit einem Kopfjäger auf die Pirsch ging. Er hatte einen Preis für seine Forschung erhalten und war deswegen auf dem Cover von Auge um Auge abgebildet gewesen. Ihre Mam sagte, die gesamte Welt würde darüber reden – oder jedenfalls der Teil der Welt, der sich genauso sehr für Augen interessierte. Anscheinend hatten die Archers den Artikel in Auge um Auge gelesen und Violets Dad danach unbedingt für diesen Job gewollt.
»Es ist ja nur für kurze Zeit, Violet«, versicherte ihre Mutter, wenngleich sie ihrem Mann einen beklommenen Blick zuwarf. »Dein Vater wird das Problem im Nu beheben.«
»Keine Sorge, Violet.« Ihr Dad streckte die Hand aus, um ihr über den Kopf zu streichen.
Sie wich aus und schob sich hinter ihrer Mutter vorbei, um sich außer Reichweite zu bringen.
»Sie ist müde«, seufzte er. Seine Wangen hatten einen leichten Rotton angenommen. »Es war ein langer Tag. Wird wahrscheinlich Zeit, dass wir ins Bett kommen.«
»Oh nein, noch nicht«, entgegnete Edward Archer schnell. »Vorher sollten wir noch zusammen einen Tee trinken. Das ist Tradition bei uns in Perfect.«
»Oh ja«, pflichtete George Archer ihm lächelnd bei. Er nahm eine Kanne und mehrere Tassen von der Arbeitsfläche. »Das ist hier Brauch.«
Auf dem Tisch stand ein kleines dunkelblaues Päckchen. Edward öffnete es, schaufelte zwei große Löffel losen Tee heraus und streute sie in die Kanne. Auf dem Päckchen stand in verschnörkelter goldener Schrift »Archers’ Tee«. Darüber war ein in Brauntönen gehaltenes Bild der Zwillinge in weißen Schürzen und mit ihren komischen Hüten auf dem Kopf.
»Das sind Sie«, stellte Violet fest und sah zu Edward hinüber.
»Da hat aber jemand Adleraugen«, erwiderte der kleinere der beiden Brüder mit einem Lächeln, während er kochendes Wasser in die Kanne goss. »Ja, das ist unser Tee. Uns gehört die Fabrik, in der er hergestellt wird. Wir sind einer der größten Arbeitgeber in der Stadt, worauf wir außerordentlich stolz sind.«
»Ich mag keinen Tee.« Violet sah ihre Mutter an.
»Den hier schon«, entgegnete George Archer schroff.
»Er ist unsere Spezialität. Die Blätter werden täglich frisch geerntet und jeden Morgen an alle Haushalte in der Stadt geliefert. Unser Tee wird aus den Blättern der Chamäleonpflanze gemacht, die nur hier in Perfect wächst. Er ist gut für die Gesundheit und verfügt über einige höchst ungewöhnliche Eigenschaften. Du wirst gleich merken, was ich meine. Die meisten Menschen hier trinken mindestens eine Tasse pro Tag. Wir sind alle geradezu verrückt nach Tee«, erklärte Edward freundlich.
Violet konnte Tee nicht ausstehen. Und was die Archers anging, war sie sich auch nicht sicher. Irgendwas an ihnen war seltsam.
Eugene und Rose wechselten einen Blick, als sie sich zu den Zwillingen an den Tisch setzten. Violet nahm zwischen ihren Eltern Platz, wodurch sie George Archer gegenübersaß. Er starrte sie durchdringend an, während sein Bruder den Tee ausschenkte.
»Nun stellt sich jeder den leckersten Geschmack vor, den er oder sie sich vorstellen kann«, wies Edward an und hob seine Tasse.
Violet tat wie geheißen. Sie dachte an das Lieblingsgetränk ihres Vaters, das zufällig auch ihres war: Sanfter Engel. Frisch gepresster Orangensaft mit mehreren Kugeln Vanilleeis. Sie malte sich aus, wie die schaumige Mischung über den Rand des Glases quoll, und konnte die Geschmacksexplosion schon fast auf der Zunge spüren. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie die Teetasse an die Lippen hob. Ein Hauch von Vanille stieg ihr in die Nase. Vorsichtig nahm sie einen winzigen Schluck, um sich nicht zu verbrennen. Der Tee kribbelte angenehm auf ihrer Zunge und gleich darauf breitete sich der himmlische Geschmack von Orange und Vanille in ihrem Mund aus. Das konnte kein Tee sein. Violet öffnete die Augen, um sich zu vergewissern, dass niemand heimlich ihre Tasse ausgetauscht hatte, doch vor ihr stand tatsächlich immer noch dieselbe langweilige milchig-braune Flüssigkeit. Sie schielte zu ihrer Mam und ihrem Dad hinüber. Beide hatten die Augen geschlossen und ein entrücktes Lächeln im Gesicht.
»Ich glaube, ich nehme noch eine Tasse«, sagte ihr Vater ein wenig später.
»Das dachten wir uns«, antworteten die Archers wie aus einem Mund.
Die Browns tranken die Kanne leer und genehmigten sich gleich noch eine zweite, während Edward ihnen alles über ihr neues Zuhause erzählte.
Edward war der Gesprächige der beiden. Violet fand ihn zumindest sympathischer als George, der anscheinend bloß brummen und missmutig dreinblicken konnte. Wobei: Wenn sie ehrlich war, war ihr keiner der beiden sonderlich sympathisch. Das Gleiche sagte auch ihre Mutter, als sie zu dritt auf den Stufen ihres neuen Zuhauses standen und den Archers zum Abschied nachwinkten.
»Ich finde sie echt unheimlich, Eugene«, raunte Rose ihrem Mann hinter ihrem aufgesetzten Lächeln zu.
Später am Abend kletterte Violet in ihr neues Bett in ihrem neuen Zimmer. Nach allem, was Edward erzählt hatte, klang Perfect nach einem netten Städtchen und der Tee war eindeutig einer der Vorzüge hier. Ein paar Dinge kamen ihr allerdings ziemlich seltsam vor. Edward hatte erzählt, dass es eine nächtliche Ausgangssperre gab, angeblich, damit