Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan

Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan


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war. Nach einer Weile ging es leicht bergab. Im nächsten Moment machte der Durchgang einen Knick nach rechts und Violet fand sich in einer Sackgasse wieder.

      Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sie vor der Rückseite des Rathauses stand. Die Glasfenster des Uhrenturms ragten hoch über ihr auf.

      Violet kehrte zum Beginn des Durchgangs zurück. Statt nach rechts in Richtung Edward Street zu biegen, folgte sie der Mauer zu ihrer Linken. Sie wollte erst noch ein bisschen die Archers’ Avenue erkunden.

      An einem der Wohnhäuser auf der rechten Straßenseite hing ein weiteres schwarzes Eisenschild. Violet überquerte das Kopfsteinpflaster, um zu lesen, was darauf stand.

      Geburtshaus der ehrenwerten Herren George und Edward Archer, der höchsten Söhne von Perfect.

      Darüber war noch etwas eingeritzt worden. Es war kaum zu erkennen, doch mit ein wenig Mühe konnte Violet gerade eben die Worte »und William« in krakeliger Kratzschrift ausmachen.

      Damit mussten die Archers gemeint sein, die sie bereits kannte. Aber wer um alles in der Welt war William?

      Neugierig lugte sie durch das Fenster neben ihr, um einen Blick auf den Ort zu erhaschen, an dem die Archers geboren worden waren. Als ihre Nase die Scheibe streifte, kam ihr aus der Dunkelheit auf der anderen Seite plötzlich ein Gesicht entgegen.

      Es gehörte einer alten Frau, deren Haut so straff saß, dass ihr die blauen Augen regelrecht aus dem Kopf zu springen schienen. Ihr weißes Haar war zwar nicht direkt ungepflegt, aber auch nicht gerade ordentlich. Es sah aus, als mochte sie es genauso wenig, sich zu kämmen, wie Violet. Ihre Lippen verzogen sich zu einem fratzenhaften Grinsen, wodurch eine ganze Reihe von Zahnlücken zum Vorschein kam. Doch da war noch etwas anderes an ihr, etwas, das Violet nicht richtig benennen konnte.

      Erschrocken drehte Violet sich um und rannte zur Edward Street zurück. In ihrer Hast stolperte sie über einen offenen Schnürsenkel und verlor ihre Brille. Während sie auf die Knie ging, um das Kopfsteinpflaster abzutasten, hallte Gelächter von den Wänden wider. Es war das gleiche unheimliche Lachen, das sie am Vorabend in der Auffahrt gehört hatte.

      Endlich fand sie ihre Brille wieder. Mit fliegenden Fingern setzte Violet sie auf und sprintete zurück zu den Geschäften. Sie entdeckte ihre Eltern vor dem Teeladen der Archers.

      »Ach, da bist du ja, Violet«, empfing ihre Mutter sie lächelnd. »Was meinst du, gönnen wir uns ein Kännchen Tee?«

      Violet nickte, noch ganz außer Atem.

      Ihre Mutter schob die Ladentür auf. Im Inneren des Geschäfts bimmelte ein Glöckchen.

      An der Wand hinter dem Verkaufstresen erstreckten sich mehrere Regale aus dunklem Holz, in denen fein säuberlich die dunkelblauen Teepäckchen mit der goldenen Schrift und dem Porträt der Archer-Zwillinge aufgereiht waren. Von den Deckenbalken hingen Teetassen, Teesiebe und Teekannen, ebenfalls in Dunkelblau und Gold gehalten, und auf den Tischen ringsum standen wunderschöne aufgeklappte Teekisten.

      »Sucht euch schon mal einen Platz am Fenster«, sagte Violets Mutter, während sie zur Theke ging.

      Violet und ihr Vater setzten sich an einen Tisch mit Blick auf die malerische Geschäftsstraße. Um die unbehagliche Stille zu übertünchen, tat Violet so, als wäre sie ganz vertieft darin, die Leute draußen vor dem Fenster zu beobachten.

      Schließlich kam Rose mit einem Tablett in der einen und einer reich verzierten Teekiste in der anderen dazu.

      »Wofür ist die, Mam?«, fragte Violet, während sie die Kiste in Augenschein nahm.

      »Die ist für den Teemann, Violet. Die Frau hinter der Theke meinte, fast alle hier in Perfect haben so eine. Man stellt sie vor die Haustür und der Teemann füllt sie jeden Morgen auf. Ist das nicht wundervoll? Der Tee wird täglich frisch geliefert, genau wie die Archers gesagt haben. Kein Wunder, dass er so aromatisch ist. Die Leute sind alle so nett. Und hier einzukaufen ist auch überhaupt nicht teuer.« Lächelnd klopfte Rose auf ihre Tasche.

      Eugene hatte nicht zugehört und schaute geistesabwesend weiter aus dem Fenster, während Rose anfing, den Tee auszuschenken.

      »Mam«, begann Violet.

      »Ja, Mäuschen?«

      »Als ich da drüben in der Straße war«, sie zeigte in die ungefähre Richtung, »ist mir die Brille runtergefallen und ich habe gehört, wie mich jemand ausgelacht hat. Das gleiche Lachen habe ich auch gestern bei unserer Ankunft schon gehört. Ich glaube, jemand verfolgt mich.«

      »Violet.« Lächelnd legte Rose einen Arm um ihre Tochter.

      »Ja, Mam?«

      »Du weißt doch, dass deine Fantasie manchmal mit dir durchgeht, Mäuschen. In dem Punkt bist du genau wie dein Vater.« Mit einem Nicken deutete Rose auf Eugene, der immer noch tagträumend aus dem Fenster sah.

      »Aber Mam, ich habe wirklich jemanden gehört! Was, wenn es ein Geist oder ein Monster oder so was war? Ich glaube, ich mag diese Stadt nicht.«

      Rose lachte. »Du ziehst immer gleich die verrücktesten Schlüsse. Mach dir keine Sorgen, Violet. Was kann an einem wunderschönen Ort wie diesem schon passieren?«

      Sie küsste Violet auf die Stirn und strubbelte ihr Haar.

      »Jetzt trink deinen Tee, Mäuschen!«, sagte sie mit einem warmen Lächeln.

      Violet tat wie geheißen, während sie versuchte, die Erinnerung an die Stimme abzuschütteln. Warum hörte ihre Mam ihr nie zu? Was, wenn es wirklich ein Geist oder so was war? Sie blickte aus dem Fenster, wo die perfekten Einwohner von Perfect ihren Erledigungen nachgingen, und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Himmlisches Vanillearoma streichelte ihre Zunge und im nächsten Moment waren all ihre Sorgen vergessen. Vielleicht war Tee ja tatsächlich die Antwort auf alles.

Kapitel 5

      Träume voller Geisterjungen

      Gerade einmal zwei Wochen nach ihrem Umzug waren die Sommerferien vorbei. Die Vorstellung, auf eine neue Schule gehen und neue Freunde finden zu müssen, behagte Violet gar nicht. Sie hatte bereits versucht, sich mit einigen Kindern hier anzufreunden, jedoch ohne Erfolg.

      Ihre Mutter hingegen schien sich mehr und mehr in Perfect einzuleben. Sie hatte Violet zu einem Treffen ihres Buchclubs mitgenommen, um sie mit den Kindern ihrer Freundinnen bekannt zu machen, die ihren eigenen kleinen Buchclub hatten.

      Bei Tee und selbst gebackenem Kuchen besprachen die Kinder James und der Riesenpfirsich von Roald Dahl. Violet hatte das Buch nicht gelesen, mochte aber seine anderen Geschichten wie Der fantastische Mr Fox oder Sophiechen und der Riese.

      »Tut mir leid, aber wenn du James und der Riesenpfirsich nicht gelesen hast, kannst du an unserer Besprechung nicht teilnehmen, Violet«, verkündete eines der Kinder.

      Den Rest des Abends saß Violet schweigend da und hörte sich an, wie die anderen über Tante Schwamm diskutierten. Am Ende verließ sie die Veranstaltung wütend und mit hochrotem Kopf.

      »Und, wie fandest du es, Violet?«, erkundigte sich ihre Mutter, als sie nach Hause liefen.

      »Furchtbar, Mam«, antwortete Violet. »Ich durfte kein Wort sagen.«

      »Natürlich nicht, Violet, du hattest das Buch ja nicht gelesen!« Ihre Mutter seufzte. »Aber war der Abend denn wenigstens schön? Fandest du sie nicht auch sehr nett?«

      »Zu nett!«, schimpfte Violet. Die anderen Kinder hatten die ganze Zeit nur gelächelt und brav alles getan, was die Erwachsenen ihnen aufgetragen hatten.

      Ihre Mutter wollte nichts davon hören. »Es reicht mir langsam, Violet. Was soll das heißen, ›zu nett‹? Kannst du dir nicht endlich mal ein bisschen Mühe geben? Du blamierst mich vor all den anderen Mums!«

      »Mums«?


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