Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
Zimmer war leer. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Vielleicht setzte ihr die Sonne ja mehr zu als den anderen. Sie sank zurück auf ihr Kissen und zog sich die Decke über den Kopf. Nach kurzer Zeit schlief sie ein. Ihre Träume waren voller Geisterjungen.
Schulregeln
Nach einer kurzen, unruhigen Nacht mit dem Kopf unter der Bettdecke stand Violet auf und ging nach unten, um zu frühstücken. In der Küche beugte ihr Dad sich im Halbschlaf über mehrere Zettel auf dem Tisch. Als sie reinkam, setzte er sich hastig auf und schob seine Notizen zusammen.
»Du bist aber früh wach, Mäuschen«, sagte er, wobei er um ein Haar seine Tasse umstieß. Der Tee darin war augenscheinlich schon länger kalt.
»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. Auch wenn es nur wenige Worte waren, war es doch eine Erleichterung, nach so langer Zeit wieder mit ihm zu reden.
»Ich auch nicht.« Eugene schenkte ihr ein warmes Lächeln.
»Was machst du da?«, fragte Violet.
»Ach, nur ein bisschen Recherche für die Arbeit.« Er schob die Zettel unter seinen Notizblock.
»Für die Archers?«
Er nickte und rückte ein Stück vom Tisch weg. »Soll ich dir Cornflakes machen, Mäuschen?«
»Dad«, sagte Violet, »magst du die Archers?«
»Selbstverständlich, Mäuschen. Sie sind meine Vorgesetzten.«
»Es ist nur, na ja, irgendwas an ihnen fühlt sich seltsam an. An der ganzen Stadt eigentlich. Findest du nicht, dass Mam irgendwie komisch drauf ist?«
»Violet, ich möchte nicht, dass du so über deine Mutter sprichst. Das ist bloß der Umzugsstress. Seit wir hier sind, mäkelst du ständig an allem rum. Gib der Stadt wenigstens eine Chance!«, blaffte er plötzlich.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden klang er verärgert. Violet verstand die Erwachsenen nicht. Gestern Abend hatte er doch selbst noch gewirkt, als ob ihm Perfect nicht recht behagte.
»Ich hasse es hier, Dad, ich hasse diese Stadt! Ich wollte überhaupt nie herziehen. Du hast uns gezwungen!«, schrie sie und stürmte aus der Küche.
»Violet, komm auf der Stelle wieder her!«
Sein Tonfall war Furcht einflößend. Am liebsten wäre Violet einfach trotzig weitergestapft, aber das traute sie sich nicht. Sie drehte sich um und trottete zurück, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen.
»Wag es nicht, jemals wieder so mit mir zu reden. Ich versuche, uns hier ein gutes Leben aufzubauen. Ich weiß, in deinem Alter ist so ein Umzug nicht immer einfach, aber ich erwarte, dass du unserem neuen Zuhause eine Chance gibst.«
»In meinem Alter?! Ich bin doch kein Baby mehr. Ich habe Perfect eine Chance gegeben, aber ich hasse es, ich HASSE es! Hier habe ich überhaupt keine Freunde und Mam und du benehmt euch total seltsam. Und letzte Nacht konnte ich deswegen nicht schlafen, weil jemand in meinem Zimmer war. Eigentlich wollte ich es euch gar nicht erst erzählen, ihr glaubt mir ja sowieso nicht.«
»Was soll das heißen, es war jemand in deinem Zimmer?« Er wirkte alarmiert.
»Ich hab eine Stimme gehört, Dad. Da war ein Junge und er hat mit mir geredet!«
»Violet, das war nur wieder deine Fantasie, die dir einen Streich gespielt hat. Das Haus ist neu und ungewohnt, da kann so was schon mal passieren. Hör zu, Mäuschen, wir versuchen alle, hier nach und nach Fuß zu fassen. Warte nur ab: Heute in der Schule wirst du jede Menge neue Freunde finden und bald hast du vergessen, dass wir diesen Streit jemals hatten.«
»Nein, werde ich nicht, Dad. Du hörst mir nie zu. Ich wünschte, ich hätte nie angefangen, wieder mit dir zu reden!«, schrie sie und rannte davon.
Diesmal drehte sie sich nicht mehr um, als ihr Dad ihren Namen rief. Sie sprintete die Treppe hinauf, knallte die Tür hinter sich zu und warf sich aufs Bett.
Eine Weile klapperte ihr Dad unten in der Küche herum, dann fiel die Haustür ins Schloss, das Auto sprang an und er war fort.
Violet weinte in ihr frisch gewaschenes Bettzeug, und zwar so laut, dass ihre Mutter sie hören konnte. Sie wollte, dass ihre Mam sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass alles wieder gut werden würde, so wie sie das früher getan hätte, bevor sie nach Perfect gezogen waren. Doch ihre Mam kam nicht und so machte sich Violet schließlich ganz alleine für ihren ersten Schultag zurecht.
Ein grauer Rock mit dazu passender Bluse und passendem Pullover hing auf einem Kleiderbügel am Fußende ihres Bettes – die Schuluniform von Perfect. Violet zog sich an, setzte sich aufs Bett und schlüpfte in ihre grauen Socken und blitzsauberen schwarzen Schuhe. Dann ging sie zu ihrem Spiegel hinüber und seufzte. Sie war vollkommen farblos.
Ihre Mutter hatte sie ermahnt, sich die Haare zu kämmen. Violet bemühte sich, so gut es ging. Anschließend nahm sie ein violettes, ein pinkes und ein gelbes Haargummi aus ihrer Schublade und band sich damit einen Zopf. So hoffte sie, ihrem eintönigen Outfit wenigstens einen winzigen Farbtupfer zu verleihen.
»Hast du dich heute früh mit deinem Vater gestritten, Violet?«, erkundigte sich ihre Mutter, als sie zu ihr in die Küche kam.
»Nein«, antwortete Violet mit verheulter Stimme.
»Alles in Ordnung, Liebes?«
Violet hob den Kopf und sah ihre Mutter mit rot geweinten Augen an. »Alles bestens.«
»Oh, gut«, sagte ihre Mutter fröhlich und lächelte, als hätte sie nichts bemerkt. »Ich hab dir ein paar Schinken-Sandwiches und ein Rosinenbrötchen zum Mittagessen eingepackt. Jetzt geh und kämm dir die Haare, Violet. Was sollen die anderen Mütter denken, wenn sie dich so sehen?«
»Aber ich hab sie mir doch schon gekämmt!«
Ihre Mutter schnalzte ungehalten mit der Zunge, schnappte sich eine Bürste vom Fensterbrett und begann, Violets Haare damit zu bearbeiten. Es ziepte wie verrückt. Als ihre Mutter die bunten Haargummis dann auch noch gegen ein einzelnes graues austauschte, stiegen Violet erneut die Tränen in die Augen.
Schweigend liefen sie die Splendid Road entlang, vorbei an Archers’ Ocularium und in die Edward Street, bis sie die Abzweigung erreichten, die nach rechts zur Schule führte. Die Straße ging leicht bergauf und Violet geriet ordentlich ins Schnaufen, als sie versuchte, mit dem strammen Tempo ihrer Mutter mitzuhalten.
Schließlich hielten sie vor einem großen Gebäude aus grauem Stein an, das ein wenig abseits der Straße stand. Das Dach der Schule lief links und rechts spitz zu, als hätte ihm jemand zwei Hexenhüte aufgesetzt, und die Eingangstür wurde von einem hohen Spitzbogen gekrönt. Das Ganze sah eher wie eine unheimliche Kirche aus, nicht wie eine Schule.
Der Schulhof war voller Kinder, die ordentlich in Reih und Glied standen und brav auf das Klingeln warteten. Sie alle trugen die gleiche graue Uniform. Keines von ihnen sprach, aber ein paar schenkten Violet ein höfliches Lächeln, als sie an ihnen vorbeiging.
»Siehst du«, raunte ihre Mutter, als sie durch die imposante Eingangstür ins Gebäude traten, »hier wirst du viele neue Freunde finden. Freunde fürs Leben!«
Eine Frau holte sie ab und führte sie zum Büro der Rektorin. Nach einer kurzen, förmlichen Begrüßung verabschiedete sich Violet von ihrer Mutter und folgte der Rektorin zu ihrem Klassenzimmer.
Dort stand sie nervös vor der versammelten Klasse, während die tadellos gekleidete Rektorin ihrer neuen Lehrerin etwas zuflüsterte. In ihrer alten Schule hatten Violet und ihre Klassenkameraden jedes Mal sofort angefangen, zu reden und Zettel rumzugeben, sobald ihre Lehrer auch nur einen winzigen Augenblick abgelenkt waren. Manchmal hatten sie sogar