Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan
ein wenig. Um das Ganze etwas aufzulockern, griff sie für den dritten Sprung auf einen Trick zurück, den sie in ihrer alten Schule immer gerne vorgeführt hatte. Das Seil kam auf sie zu und Violet sprang hoch und überkreuzte die Beine, als es unter ihr hindurchschwang.
Augenblicklich hielten die Mädchen das Seil an und alle wandten sich Violet zu.
»Das steht nicht in den Regeln«, schnauzte Beatrice.
»Tut mir leid«, stammelte Violet.
»Es steht nicht in den Regeln, Violet«, wiederholte Beatrice. »Wenn es nicht in den Regeln steht, darfst du es nicht machen. Was glaubst du, wofür es Regeln gibt?«
Violet wusste nicht, was sie sagen sollte. Die anderen starrten sie wütend an. Plötzlich begann Beatrice, das Seil wieder zu schwingen.
»Ist schon gut, Violet«, sagte sie lächelnd, als sei nichts geschehen. »Vielleicht setzt du diese Runde erst mal aus und siehst zu.«
Gehorsam suchte Violet sich einen Platz etwas abseits der Gruppe. Wie Roboter hüpften die restlichen Mädchen bis zum Ende der Pause weiter. Als es klingelte, hörten sie sofort auf und kehrten stumm und in einer ordentlichen Reihe in ihre jeweiligen Klassenräume zurück. Diese Schule war wirklich seltsam. Für Kinder war Perfect offenbar alles andere als perfekt.
Zurück an ihrem Platz, machte Violet mit dem Fragebogen weiter. Warum wollte die Schule wissen, ob sie jemals einen imaginären Freund gehabt hatte oder gerne tagträumte? Gerade als sie aufschrieb, dass Tagträumen eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war, rutschte ihr der Bleistift aus der Hand und fiel auf den Holzboden. Er rollte außer Reichweite, sodass sie von ihrem Stuhl glitt und unter den Tisch krabbelte. Während sie die Hand nach dem Stift ausstreckte, blieb ihr Blick an etwas auf der Unterseite ihres Pults hängen.
William Archer war hier, furchtlos und voller Lebensgier.
Mühsam drehte sie sich auf der beengten Fläche unter dem Tisch um und fuhr mit den Fingern über die eingeritzten Buchstaben.
Schon wieder dieser Name. William Archer.
Seltsam, dass weder die Archer-Brüder noch Violets Eltern William jemals erwähnt hatten. Er schien jedenfalls ziemlich cool zu sein. Edward oder George würden ihre Namen mit Sicherheit nirgends einritzen. Niemand in Perfect würde das tun.
Sie kroch unter dem Tisch hervor und setzte sich wieder.
Erst als sie weiterschreiben wollte, bemerkte sie die Stille um sich herum. Langsam sah sie hoch. Zum zweiten Mal an diesem Tag waren sämtliche Blicke auf sie gerichtet.
»Wie ich sehe, hast du beschlossen, dich wieder zu uns zu gesellen«, bemerkte Mrs Moody spitz.
»Oh, ich … mir ist der Bleistift runtergefallen«, sagte Violet und hielt ihn hoch.
»Und da ist dir nicht in den Sinn gekommen, vorher um Erlaubnis zu bitten?«
»Ich … ähm …« Sie sollte um Erlaubnis bitten, ihren Bleistift aufheben zu dürfen? Das klang total bescheuert.
»So sind die Regeln, Violet«, erwiderte Mrs Moody streng. »Beatrice hat mir erzählt, was beim Seilspringen vorgefallen ist, und jetzt das. Ich fürchte, ich werde deine Eltern anrufen müssen.«
Sie wollte wegen eines harmlosen Tricks und eines runtergefallenen Bleistifts ihre Eltern anrufen?
»Aber … ich wollte doch bloß …«
»Nichts aber, Violet. Du bewegst dich auf äußerst dünnem Eis, Liebes. So, zurück an die Arbeit, Kinder«, kommandierte Mrs Moody lächelnd.
Es dauerte eine Weile, bis Violet sich aus ihrer Schockstarre löste und sich wieder dem Fragebogen zuwandte.
Was kommt dir als Erstes in den Sinn, wenn du an Perfect denkst?
Wütend malte sie einen Hundehaufen in das Kästchen. Sie musste hier weg, und zwar bald.
AGDS
Tags darauf saß Violet nach der Schule zu Hause am Küchentisch und plagte sich mit ihren Hausaufgaben herum. Sie sollte einen Aufsatz schreiben, zum Thema »Warum die Welt Regeln braucht«.
Ihrer Meinung nach brauchte die Welt nicht viele Regeln. Sie hatte versucht, das im Unterricht anzubringen, woraufhin Mrs Moody beinahe einen Herzinfarkt erlitten hatte. Niemand stimmte ihr zu. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass die Aufgabe nur auf sie abgezielt hatte.
»Ich habe gerade mit deiner Lehrerin gesprochen«, verkündete ihre Mutter seufzend, als sie in die Küche kam. »Sie sagt, du hast den Unterricht gestört und integrierst dich nicht in die Klasse …«
Sie ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen. Violet wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter hob die Hand.
»Außerdem liegt die Auswertung deiner Testergebnisse vor. Nicht zu fassen, dass es mir nie aufgefallen ist. Das ist meine Schuld. Ich trage die Verantwortung dafür.«
»Was meinst du, Mam? Was für Testergebnisse?«
»Violet, bitte, ich weiß, das ist nur ein Symptom deines Zustands, aber sei nicht so vorlaut.«
»Mam«, flehte Violet, »geht es um den Test von gestern? Der war das Dümmste, was ich je gesehen habe. Sie wollten sogar wissen, welche Farbe meine Lieblingssocken haben. Du hättest dich kaputtgelacht! Hier ist alles so seltsam, Mam, ich finde Perfect einfach nur gruselig …«
»Schluss damit, Violet, ich will nichts mehr hören. Farben können viel über eine Person aussagen, vor allem die Farbe ihrer Socken! Nun denn, Violet, Liebes«, fuhr ihre Mutter fort, deren »Liebes« schon genauso klang wie das von Mrs Moody, »wie sich herausgestellt hat, leidest du an einer Krankheit namens AGDS. Das steht für Anpassungs- und Gehorsamkeitsdefizit-Syndrom. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das nie bemerkt habe, obwohl es dir wahrscheinlich schon dein gesamtes Leben lang zu schaffen gemacht hat, Liebes.« Sie steckte die Hand in ihre Tasche. »Deswegen bekommst du ab sofort die hier.«
Rose zog ein kleines braunes Fläschchen hervor und stellte es vor Violet auf den Tisch.
»Davon nimmst du eine am Morgen«, sagte sie, während sie das Fläschchen wieder hochnahm und eine einzelne gelbe Pille in ihre Hand schüttete. Dann stand sie auf, füllte ein Glas mit Wasser und setzte es zusammen mit der Pille vor ihrer Tochter ab. »Und zwei am Abend. Der Doktor meinte, ich soll dir deine Morgendosis jetzt gleich geben, weil du ein besonders schwerer Fall bist. Die Abenddosis gebe ich dir, wenn ich zurückkomme. Mach dir keine Sorgen, dass wir es vergessen könnten, Liebes, Mrs Moody hat mir freundlicherweise diesen Timer gegeben, der uns daran erinnert.« Sie stellte eine kleine Uhr auf den Tisch. »Der Schule liegt dein Wohlergehen wirklich am Herzen.«
»Aber Mam, ich gehe da doch erst seit zwei Tagen hin! Mrs Moody kennt mich überhaupt nicht. Der Test war total bescheuert und ich war nicht ungehorsam! Mir ist bloß der Bleistift runtergefallen und beim Seilspringen habe ich einmal die Beine überkreuzt. Mam, bitte, ich will keine Tabletten nehmen. Ich bin nicht krank!«
»Violet, Schluss jetzt! Ich weiß, du verhältst dich nur wegen deines AGDS so, aber ich muss sagen, das kann ganz schön ermüdend sein.«
»Aber Mam …«
»Genug, Liebes! Jetzt nimm deine Tablette. Ich muss gleich zum Buchclub und möchte mir keine Sorgen machen müssen, dass du dein Medikament nicht genommen hast.«
Violets Blick wanderte zu der gelben Pille vor ihr und von dort hoch zu ihrer Mutter, die aussah, als würde sie gleich explodieren. Wütend legte sie sich die Tablette auf die Zunge, setzte das Wasserglas an und schluckte.
Ihre Mutter lächelte, tätschelte Violet den Kopf und erhob sich.
»Nun fühlst du dich doch gleich viel besser,