Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan

Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan


Скачать книгу
fiel trotzdem nicht darauf rein. Die Stadt hatte sie blind gemacht und das nahm sie ihr gewaltig übel. Und die Archers konnte sie auch nicht ausstehen, vor allem nicht George, der ständig mies gelaunt schien.

      Auf den Stufen vor dem Laden nahm sie ihre Brille ab und blickte sich um. Um sie herum war alles dunkel und verschwommen. Kaum dass sie die Brille wieder aufsetzte, kehrte ihr Augenlicht zurück.

      Sie probierte das Ganze noch mehrmals aus, immer mit demselben Ergebnis. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ohne ihre Brillen waren sie außerstande zu sehen. Das Gleiche musste demnach für sämtliche Einwohner der Stadt gelten. Wenn es nach Violet ging, war das alles andere als perfekt.

Kapitel 4

      Die höchsten Söhne von Perfect

      Die Archers hatten Violets Dad den Tag freigegeben, damit er sich ein wenig einleben konnte. Die kleine Familie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und sich in der Stadt umzusehen.

      Perfect erkundete man am besten zu Fuß, hatte Edward Archer erklärt, als er sie zu Hause abgesetzt hatte. Also taten sie genau das. Nachdem sie ihre Schlafanzüge gegen straßentauglichere Kleidung getauscht und ein schnelles Frühstück zu sich genommen hatten, machten sie sich auf den Weg. Violet lief vor ihren Eltern her die Auffahrt entlang. Nach einigen Schritten blieb Rose stehen und seufzte. »Ist es nicht herrlich, Eugene?«

      Sie waren von Bergen umgeben. Im Vordergrund erhoben sich grüne Hügel und dahinter ragten blaue Gipfel in die Höhe. Perfect saß mittendrin, als hätte jemand mit einem überdimensionalen Löffel eine Kuhle in die Gebirgslandschaft geschabt, die gerade eben groß genug für das kleine Städtchen war. Ansonsten war weit und breit nichts zu sehen. Schon während der Anreise hatte Violet das dumpfe Gefühl verspürt, mitten ins tiefste Nichts zu fahren – jetzt wusste sie, wie recht sie damit gehabt hatte.

      Schon nach wenigen Stunden hatte sie sich an ihre Brille gewöhnt. Es kam ihr beinahe vor, als hätte sie schon immer eine getragen. Alles wirkte gestochen scharf und die Aussicht war zugegebenermaßen doch ganz nett.

      Ihr Haus befand sich am Rand der Stadt, am Ende einer Allee. Während sie die Straße entlangschlenderten, fiel Violet auf, dass die Bäume im exakt selben Abstand zueinander standen. Um sicherzugehen, maß sie nach, indem sie unterwegs die Schritte zählte.

      Nach ein paar Minuten bogen sie nach links ab, in eine schmale Straße, die zum Stadtzentrum führte. An einem der Gebäude war hoch oben ein schwarzes Eisenschild mit der Aufschrift »Splendid Road« befestigt.

      Links und rechts von ihnen reihte sich ein dreistöckiges, aus roten Ziegeln gemauertes Haus an das nächste. Die Straße führte geradewegs auf das Brillengeschäft der Archers zu, das ihnen wie ein Leuchtfeuer den Weg wies. Als sie darauf zugingen, bemerkte Violet, dass sämtliche Türen in der Straße schwarz gestrichen waren und auf jedem Fenstersims ein Blumenkasten stand.

      Beim Anblick der Stufen vor dem Brillenladen musste Violet daran denken, wie sie sich dort erst vor wenigen Stunden schmerzhaft den Zeh angestoßen hatte. Nun konnte sie das Gebäude in seiner ganzen Pracht sehen. Über der dunkelblau gestrichenen Tür prangte in großen goldenen Lettern der Schriftzug: »Archers’ Ocularium«.

      Links des Oculariums befand sich eine hohe Mauer, rechts davon erstreckte sich eine Straße zwischen zwei Häuserreihen, bei denen es sich um weitere Geschäfte zu handeln schien. Auch hier hing wieder ein schwarzes Eisenschild an der Wand und verkündete, dass dies die »Edward Street« war.

      »Ist es nicht wundervoll, Violet?«, fragte ihr Vater lächelnd. »Ich liebe solche alten Städte. Sogar die Stadtmauer steht noch. Denk nur, welch lange Geschichte sich dahinter verbergen muss.«

      Violet behielt ihr Schweigen bei. Geschichte war das Schulfach, das sie am allerwenigsten mochte. Darüber wollte sie nicht auch noch in ihrer Freizeit nachdenken.

      Die Familie setzte ihren Weg durch die Edward Street fort.

      Drei Häuser weiter kamen sie an Hatchets Familienmetzgerei vorbei. Ein Mann mit weißer Mütze, rot gestreifter Schürze und goldgeränderter Brille begrüßte sie herzlich. Er sprach sie mit Namen an, was seltsam war, weil sie ihm definitiv noch nicht begegnet waren.

      »Es ist eben eine Kleinstadt, Rose, daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen«, antwortete ihr Vater, als ihre Mutter ihn auf die Freundlichkeit der Bewohner ansprach.

      »Oh, ich glaube, ich habe mich schon daran gewöhnt, Eugene. Ich fühle mich hier zu Hause, das ist genau das, was wir gesucht haben. Ich bin so froh, dass du uns hergebracht hast.«

      Wie bitte? Ihrer Mutter hatte die Vorstellung, umziehen zu müssen, überhaupt nicht gefallen. Sie tue das nur der Familie zuliebe, hatte sie unzählige Male gesagt. Offenbar hatte sie ihre Meinung schnell geändert.

      »Ich finde, wir haben die richtige Entscheidung getroffen, Eugene.« Lächelnd drückte sie die Hand ihres Mannes.

      Violets Dad strahlte übers ganze Gesicht. Überschwänglich küsste er seine Frau auf die Stirn, während sie vor der Konditorei standen. Violet schämte sich in Grund und Boden.

      Sie fand die Stadt seltsam. Es fing damit an, dass wirklich alle hier eine Brille trugen, noch dazu immer das gleiche rechteckige Modell mit Goldrand und rosaroten Gläsern. Die Straßen waren blitzsauber und ordentlich. Nirgends war auch nur ein Fitzelchen Abfall zu erkennen, nicht mal ein einzelnes Bonbonpapier. Auf keiner der schwarzen Bänke entlang der Bürgersteige klebte Kaugummi und an den Wänden fand sich kein noch so winziges Graffiti. Die Menschen waren allesamt schlank, und obwohl sie nicht unbedingt gleich aussahen, waren sie sich doch irgendwie ähnlich. Es war so eine Art Glanz oder Schimmer – irgendwie schien jeder hier regelrecht zu leuchten.

      »Sie sind gesund, Violet«, erklärte ihr Vater, als sie ihre Eltern darauf hinwies. »Die Archers haben mir erzählt, dass Perfect als gesündeste Stadt der Welt gilt.«

      Da war eindeutig etwas dran. Bis jetzt waren sie noch an keiner einzigen Frittenbude vorbeigekommen und dabei liebte Violet Fish ’n’ Chips. Das war Sonntagabend-Familientradition im Hause Brown. Im Stillen setzte sie auch diesen Punkt auf ihre Liste der Dinge, die gegen Perfect sprachen.

      Während ihre Eltern sich angeregt mit einem weiteren Passanten unterhielten, der sie bereits beim Namen kannte, schlich Violet heimlich davon.

      Sie kam am Rathaus vorbei, einem alten Gebäude, dessen Fassade vier steinerne Säulen zierten. Violet blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um den riesigen Uhrenturm besser sehen zu können, der auf dem Schrägdach des Rathauses prangte. Bestimmt hatte man von dort oben einen tollen Blick über die gesamte Stadt mitsamt den umliegenden Bergen.

      Neben dem Rathaus stand das Teegeschäft der Archers. Es war in den gleichen Farben gehalten wie die inzwischen leere Packung Tee, die noch vom Vorabend auf dem Küchentisch lag: dunkelblau mit goldener Schrift.

      Ein Stück weiter zweigte eine Straße nach links ab. Hoch oben an der Häuserwand hing wieder eines dieser schwarzen Eisenschilder, diesmal mit der Aufschrift: »Archers’ Avenue«.

      Violet bog von der Edward Street ab und folgte dem makellos sauberen Kopfsteinpflaster der Archers’ Avenue. Auf der rechten Straßenseite standen zweistöckige Wohnhäuser, auf der linken gab es einen engen, beinahe versteckten Durchgang entlang der Rückseite der Geschäfte, die auf die Edward Street hinausgingen.

      Der Durchgang lag im Schatten der Geschäfte links und einer hohen Mauer rechts. Er war dunkel und nicht sonderlich einladend, ganz anders als alles, was Violet bisher in Perfect gesehen hatte. Ein Schild verkündete, dass es sich um die »Rag Lane« handelte. Lumpengasse. Das passte.

      Etwas daran zog sie geradezu magisch an.

      Mit einem Anflug von Nervosität folgte sie dem schmalen Durchgang, wobei sie in regelmäßigen Abständen innehielt und sich umsah, um sicherzustellen, dass niemand sie aus dem Dunkeln beobachtete.


Скачать книгу