Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie. Helena Duggan

Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan


Скачать книгу
gefiel der Gedanke, abends nicht mehr rauszudürfen, ganz und gar nicht. Und das mit dem Blindsein fand sie sogar noch schlimmer. Außerdem: Wie sollte sie sich in einer Stadt namens Perfect wohlfühlen? Bestimmt musste man hier ständig sauber und ordentlich sein, sie würde sich also regelmäßig die Haare kämmen und womöglich sogar ihre Schuhe putzen müssen. Das konnte nicht lange gut gehen.

      Damit stand die Entscheidung fest: Sie mochte Perfect nicht und das würde sich auch niemals ändern. Violet drehte sich auf die Seite und fiel in einen tiefen, friedlichen Schlummer. Sie hatte ja keine Ahnung, was ihr am nächsten Morgen bevorstehen sollte.

Kapitel 3

      Das Ocularium

      Die Morgensonne fiel durch Violets Fenster, wärmte ihr Gesicht und weckte sie sanft aus ihren Träumen. In ihrem neuen Bett hatte Violet geschlafen wie ein Stein.

      Nachdem sie sich ausgiebig gereckt und gestreckt hatte, setzte sie sich auf. Jetzt erst merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie nahm noch verschwommen die Ränder ihres Zimmers wahr, doch alles, was direkt vor ihr lag, verschwand hinter einem fetten schwarzen Fleck, als wäre ihr über Nacht Tinte unter die Lider gelaufen. Sie rieb sich die Augen, aber nichts geschah – sie konnte immer noch nichts sehen.

      Ihr Herz begann zu rasen. Sie schob den Fuß unter der Bettdecke hervor und tastete nach dem Boden.

      »Aua!«, schrie sie, als sie sich auf dem Weg zur Tür den Zeh an etwas Hartem stieß. »Mam!«

      »Was ist los, Violet?«, meldete sich Dad mit verschlafener Stimme zu Wort.

      Ein plötzliches Krachen ließ das Haus erzittern.

      »Eugene!«, rief ihre Mutter. »Eugene, was ist passiert, geht es dir gut?«

      Mit ausgestreckten Händen tappte Violet durch die Tür und bahnte sich einen Weg zum Schlafzimmer ihrer Eltern.

      Sie stolperte hinein. »Mam, ich kann nichts sehen!«

      »Ich auch nicht, Mäuschen«, antwortete ihr Vater merkwürdig gut gelaunt. »Kein Grund zur Panik, genau davor wurden wir ja schon gewarnt.«

      »Aber nicht, dass es so schnell gehen würde!«, protestierte ihre Mutter.

      »Kein Grund zur Panik«, wiederholte Violets Dad, auch wenn seine Stimme dabei in eine etwas höhere Tonlage rutschte. »Violet, komm her und steig zu deiner Mutter ins Bett. Ich gehe nach unten und versuche mal, ob ich die Archers erreiche. Sie wissen bestimmt, was jetzt zu tun ist.«

      »Und wie soll das gehen, Eugene? Du kannst doch auch nichts sehen«, schluchzte ihre Mutter.

      »Macht euch um mich mal keine Sorgen«, antwortete er und stieß prompt mit Violet zusammen, die gerade auf allen vieren über den Schlafzimmerteppich krabbelte.

      »Pass auf, Dad!«, rief Violet. Damit verstieß sie zwar gegen ihr Schweigegelübde, aber es handelte sich nun mal um einen Notfall.

      »Gute Idee, Mäuschen!«, sagte ihr Vater und ließ sich umständlich auf die Knie sinken. »Ich hole dann also mal Hilfe und bin gleich wieder zurück. Vertraut mir.«

      Violets Vater krabbelte quer durchs Schlafzimmer und hinaus in den Flur.

      Ihm vertrauen? Das konnte er sich abschminken. Er hatte ihnen den Schlamassel doch erst eingebrockt.

      »Au!«, schrie Violet, als sie gegen das Bett ihrer Eltern knallte.

      »Alles in Ordnung, Mäuschen?«, erkundigte sich ihre Mutter von oben.

      Violet rieb sich die Stirn. Blut fühlte sie schon mal keins.

      »Ja, ich glaub schon«, stöhnte sie und kletterte zu Rose ins Bett.

      Die Matratze war noch warm und das Bettzeug roch nach Dad. Violet kuschelte sich eng an ihre Mam.

      »Guten Morgen!«, rief eine Stimme von draußen zu ihnen herauf. »Ist es nicht ein wundervoller Tag, Familie Brown?«

      »Mam, da draußen ist jemand.«

      »Ich weiß, Mäuschen. Warte hier«, flüsterte ihre Mutter und stieg aus dem Bett.

      Rose stolperte durchs Zimmer, dann ging das Fenster quietschend auf und kalte Luft strich kitzelnd über Violets Zehen, die unter der Bettdecke hervorlugten.

      »Hallo?«, rief Rose.

      »Oh, guten Morgen, Mrs Brown. Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen und bei der Gelegenheit Eugene anbieten, ihn zur Arbeit zu fahren.«

      »Ach, Sie sind das, Mr Archer«, seufzte ihre Mutter. »Sie schickt der Himmel. Ich fürchte, wir fühlen uns nicht so gut. Die Wirkung der Sonne hat früher eingesetzt als erwartet.«

      »Herrje, wie bedauerlich. Aber es reagiert eben jeder etwas anders darauf und manchmal geht es doch schneller als gedacht. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen das in null Komma nichts wieder in Ordnung.«

      Einige Minuten später führte Mr Edward Archer – Violet war sich sicher, dass er es war, denn er war kaum größer als sie – Eugene, Rose und Violet behutsam aus dem Haus und zu seinem Auto.

      »Auf zum Ocularium!«, rief er, als der Motor surrend zum Leben erwachte.

      Violet wunderte sich, warum sie sich Fische ansehen sollten, wo sie doch so gut wie blind waren. Erst als sie ankamen und sie aus dem Augenwinkel einen verschwommenen Blick auf das Ladenschild erhaschte, verstand sie, dass Mr Archer »Ocularium« gesagt hatte und nicht »Aquarium«. Von ihrem Dad wusste sie, dass »okular« irgendwas mit Augen zu tun hatte. Das Ocularium war offenbar ein Brillengeschäft! Das ergab auch viel mehr Sinn. Sowohl das Wort als auch die seltsame Schreibweise passten zu Edwards Vorliebe für hochgestochene Ausdrücke.

      Als Mr Archer sie am Arm fasste und ihr langsam aus dem Auto half, beschloss Violet, dass sie nie wieder blind sein wollte. Sie mochte es, sehen zu können. Schon jetzt vermisste sie die vielen Farben und sehnte sich nach allem, was blau oder lila oder orange war. Sogar braun wäre ihr lieber gewesen als dieses eintönige Schwarz.

      »Mr Archer«, sagte sie, als ihr plötzlich etwas einfiel, »wir waren doch noch gar nicht in der Sonne. Wie kann es da sein, dass unsere Augen schon so schlecht geworden sind?«

      »Die Sonne hat den ganzen Morgen durch dein Fenster geschienen, Liebes«, antwortete Edward Archer.

      »Aber …«

      »Manche Menschen reagieren sehr empfindlich darauf, Violet«, unterbrach er sie und drückte ihren Oberarm so fest, als wolle er ihn abschnüren.

      Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, stieß jedoch prompt mit dem Zeh gegen etwas Hartes.

      »Aua!«, jaulte sie auf und hob ihren Fuß.

      »Ach herrje, ich Dummerchen habe ganz vergessen, die Treppe zu erwähnen!« Edward Archer lockerte seinen Griff.

      Sie klammerte sich an seinem Ellbogen fest und tastete sich vorsichtig die fünf breiten Stufen hinauf. Dann wurde das Schwarz plötzlich noch schwärzer und sie geriet ins Stolpern.

      »Keine Sorge, Liebes, wir sind nur gerade reingegangen, dadurch hat sich das Licht ein wenig verändert«, sagte Edward lachend.

      Violet lächelte so höflich wie möglich. Sie hatte sich ohnehin schon halb entschieden, aber durch sein Lachen war die Sache endgültig klar: Sie hasste Edward Archer fast genauso sehr wie seinen Bruder.

      »Hier ist ein Stuhl. Komm, ich helfe dir, dich zu setzen«, verkündete er. Er nahm ihre Hände, sodass sie sich langsam rückwärts sinken lassen konnte.

      Sie zuckte zusammen, als das kalte Leder ihre nackten Beine berührte. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie immer noch ihren Sommerschlafanzug anhatte, den mit den vielen roten und rosafarbenen Herzchen drauf. Bei dem Gedanken


Скачать книгу