Jäger der Finsternis. Rhya Wulf
das, ja? Ich sag dir was: Wenn das die Runde macht, bringe ich dich um, klar? Nein, nein, du warst es, nicht ich, haben wir uns verstanden, Sohn?“ Der Junge hatte verstanden. Und da das so war, erbebte die Erde kurz, aber heftig, Schüsseln und Krüge fielen aus den Regalen, einige zerbrachen am Boden. Der Junge sah dort hin, bemerkte einen langen Splitter, einem Dolch nicht unähnlich, und dann geschah es: Helle blaue Funken stoben aus den braunen Augen des Jungen und da erhob sich der lange Splitter wie von Geisterhand getragen in die Luft, flog langsam drohend auf den Mann zu und verharrte zitternd vor dessen Gesicht.
„Du…du machst das! Hör auf damit!“, schrie der Mann ängstlich und wich einige Schritte zurück. Als sein Fuß gegen den leblosen Körper des Mädchens stieß, verharrte er erschrocken. Der Splitter war ihm gefolgt und lauerte immer noch vor seinem Gesicht. Der Mann schluckte trocken und ging zum Angriff über.
„Das wagst du nicht! So viel Mumm hast du nicht, Schwächling! Du bist zu weich, konntest ja nicht mal deine kleine Schwester beschützen, du kleiner Mistkerl. Was für ein Bruder bist du, dass du ihr nicht geholfen hast? Lass ihn runter, sage ich.“
Der Junge, der den Mann nicht aus den Augen gelassen hatte, schüttelte langsam den Kopf.
„Nein“, hauchte er. Die Augen des Mannes weiteten sich erschrocken und in diesem Moment raste der Splitter auf ihn zu, direkt in sein rechtes Auge hinein. Der Mann schrie vor Schmerz, aber der Junge hörte nicht auf. Weiter, immer weiter trieb er den Splitter, so lang bis er aus dem Hinterkopf des Mannes herausragte. Dann endete es.
Der Junge drehte auf dem Absatz um und lief davon, raus aus dem Haus des Köhlers im Wald. Der Junge weinte, Verzweiflung und Trauer hatten jetzt die Herrschaft übernommen. Er weinte bitterlich und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen. Seine Schritte führten ihn nicht ins Dorf, denn von dort wäre keine Hilfe zu erwarten. Selbst Fintan, der Druide, sein Onkel, hatte sich stets Ausreden suchend vor seinen kleinen Bruder gestellt. Also lief er einfach. Planlos Ziellos.
Der Junge erwachte mit einem Aufschrei und sah sich wild um. Da flackerte ein sanftes Licht im Haus auf und er sah Gormal näherkommen, seinen Lehrer. Der alte Mann, dessen strahlend blaue Augen ihm jenen Namen eingebracht hatten, ließ sich auf der Bettkante des jungen Mannes nieder.
„Nur ein Traum, Junge. Alles wird wieder gut, ich verspreche es.“
Der junge Mann glaubte ihm - Gormal hatte ihn nie im Stich gelassen, hatte ihm immer geholfen und war immer da, wenn er ihn gebraucht hatte, so auch jetzt. Also nickte er zaghaft.
„Du kannst dich immer noch nicht an die Bilder aus dem Traum erinnern, richtig?“
Der junge Mann nickte abermals.
„Ja, Meister. Aber was nun?“ Gormal schmunzelte.
„Oh, ich denke, ich kenne da jemanden, den ich dir vorstellen werde. Bald ist es Zeit, zur Zusammenkunft der Druiden nach Môn aufzubrechen, wie du weißt. Du bist jetzt elf Jahresläufe alt und die Träume werden intensiver. Ja, warum nicht? Die Zeit scheint reif zu sein.“
„Reif, Meister? Aber wofür?“ Ein Funkeln erhellte die Augen des alten Mannes und er antwortete mit einem verschmitzten Lächeln:
„Zeit, den Zauberer kennenzulernen, Laoghaire.“
Und dann…
Noch dies:
Das Totenreich, Zeit: Nicht existent, zum besseren Verständnis: „jetzt“
Der Wanderer lächelte. Da war er wieder, der Traum des Jungen. Jener Traum, den er vor zwei Jahresläufen das erste Mal geträumt hatte. Es hatte dem Wanderer gefallen, denn auf diese Weise hatte der Junge ihm eine Seele offenbart, die so böse und verdorben war, wie er sie schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte. Indes: Diese Information nützte ihm in seiner aktuellen Situation nicht viel, denn er war ein Gefangener. Noch, aber er hatte sich jene Seele genau angesehen. Die Spiegelungen des kleinen Baches in der Nähe hatten dafür gesorgt, dass er sehen konnte. Sobald er frei wäre, würde er ihn aufsuchen. In jenem alten, verfallen Haus im Wald. Fintan, der Druide, hatte zur Sicherheit einen Bannzauber um das Gebäude gelegt, was für den Wanderer allerdings ohne Bedeutung war. Sterbliche Magie war einfach so lächerlich schwach. Seit den Tagen, als der Zauberer ihn, den Nekromanten, am See im Alten Wald gestellt und nach langem hartem Kampf gezwungen hatte, sich hierher zu flüchten, wartete er. Er hatte ein Versteck zwischen den Neun Ringen gewählt, die eine jede Seele, gemäß der Neun Ewigen Sünden, passieren musste. Und dort wartete er also. Denn das war sein Ziel: Zurückzukehren, ohne das Urteil des Richters - aus eigener Kraft. Doch dies war niemandem vorher gelungen, das war dem Wanderer klar. Es war gegen die Gesetze dieser Welt, gegen die Gesetze des Einen, der jene Welt vor Äonen schuf: Balor, letzter König der Fomor und Herr über den Tod. Heute herrschten hier Morrigan von den Tuatha Dé Danann und der Richter, den niemand je erblickt hatte. Aber jeder hörte die Stimme, wenn er das letzte Urteil sprach, und jeder, der jene Stimme einmal vernommen hatte, erzitterte – zu seinem Ärger auch der Wanderer. Obgleich er nicht verstand, warum das so war. Aber er wusste auch, dass der lange Aufenthalt im Totenreich das Vergessen nach sich zog und er musste befürchten, wichtige Informationen aus seiner Vergangenheit verloren zu haben. Auch dies war ein Grund für das, was er so lange geplant hatte. Und endlich, irgendwann hatte er sich entschlossen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, welches schier unmöglich schien, aber er, der Wanderer, konnte es. Niemand sonst, außer ihm, wäre dazu in der Lage. Denn er war ein Magier, ein Nekromant, ein Totenbeschwörer. Und dies war die Welt der Toten.
Es hatte sein müssen. Nur auf diese Weise würde er entkommen können, denn einmal im Totenreich angelangt, so gab es keine Wiederkehr. Für niemanden. Es sei denn, der Richter bestimmte die Wiedergeburt. Niemand schaffte es aus eigener Kraft, die Tore von der falschen Seite aufzureißen.
Also hatte er damit begonnen, Veränderungen vorzunehmen. Die grauenhaften Schmerzen waren dabei nicht von Belang…und am Ende war es vollbracht.
Und dann wurde er zu…etwas anderem.
Dämon.
Hinzukam, dass er die schmähliche Tatsache, seines Körpers beraubt worden zu sein, zumindest ein wenig ausgleichen konnte. Körpergebundene Kraft, das war seine Stärke und seine Schwäche gleichermaßen - aber das galt für alle seines Volkes. Und nun, ohne seine wahre Macht abrufen zu können, hatte er einen Weg gefunden, seine Stärke zu mehren.
Dämon.
Der Nachteil, der ihm zeitgleich ein Vorteil war, war allerdings dies: Er brauchte jemanden, der ihn rief, der ihm das Tor öffnete.
Jemanden, der denselben Hass in sich trug wie er, Hass auf den Mann, der die Schuld an seiner misslichen Lage trug:
Hass auf Cathbad, den Zauberer.
Der Blick fällt auf eine Siedlung, umfriedet von einem hohen Erdwall, verstärkt mit Holz und gekrönt von einer Brüstung. Der Betrachter kann hinter dem Wall Häuser sehen, sowie den großen Gemeinschaftsstall. Eine große Halle thront auf einem Hügel, so ziemlich in der Mitte der Anlage. In der Nähe beginnen die ersten Ausläufer des Östlichen Waldes, der zum Holzschlagen, Jagen und Sammeln genutzt wird und auch der Köhler lebt dort. Ein friedlicher, stiller Wald. Jedoch…da war noch jener andere Wald, der im Westen, einem düsteren Bollwerk gleich, seine uralten Äste wie Speere in den Nachthimmel reckt. Dieser Wald wird gemieden, was seltsam anmutet, denn die Menschen, die hier lebten, hatten diesen Platz einst, vor langen Jahresläufen, als ihre Heimat auserkoren. Niemand sonst hatte diesen Ort für sich beansprucht, und Caenas Vorfahren – er war der Häuptling in den Tagen, von denen ich Euch hier erzähle – hatten beschlossen, sich hier anzusiedeln. Sie wurden vor langer Zeit aus ihrer Heimat Albion vertrieben und hatten keine große Auswahl. Wir sehen weiter und der Blick fällt auf drei abgelegene Häuser: Eines nahe dem Westlichen Wald, dem sogenannten Alten Wald, gelegen, das andere daneben, eine Schmiede. Das letzte Haus befindet sich am Fuße eines stillen und in Nebel gehüllten Hügels und schräg hinter dem Haus, einige Schritte später, ragt ein wohl gut drei Schritt hoher, pechschwarzer Stein in die Höhe. In diesem Haus erwacht soeben ein Mann und richtet sich auf. Er wendet seinen Blick nachdenklich in