DAS ALIEN TANZT WALZER. Группа авторов
Buch aus. Die Nägel waren kurz geschnitten. Eine protzige Armbanduhr prangte an seinem Handgelenk. Seltsam, was für Details einem manchmal so auffielen. Und unter dem Offensichtlichen, dem Alltäglichen ein Wimmeln und Wuseln, wie von Tintenfischarmen …
Johanna reichte ihm das Buch. Den Instinkt, der ihr riet, sich umzudrehen und schreiend davonzulaufen, rempelte und schubste sie in die hinterste Ecke. Für Hysterie war auch später noch Zeit.
Der Mann verneigte sich. »Ich danke Ihnen.« Seine Stimme war schlüpfrig und nur fast menschlich, und Johanna fiel auf, dass Worte und Lippenbewegungen nicht zusammenpassten, wie bei einem schlecht synchronisierten Film.
Sie schluckte. Entweder sie hatte eine Art Kurzschluss im Gehirn und sah lauter Dinge, die nicht da waren, oder aber das Gewimmel war echt, und die menschliche Gestalt nur eine Art Tarnung. Dann allerdings war die Tarnvorrichtung, die fremdartige Bewegungen und Sprache in menschliche Ausdrucksformen übersetzte, irgendwie kaputt.
»All das«, fuhr der Mann fort und wies auf die Regale voll Bücher, »all das ist passiert, ja?«
»Was in den Büchern steht? Nein, nicht unbedingt. Was darin passiert, ist meistens erfunden, aber nicht das, worum es geht«, sagte Johanna. Ihr Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Bei solchen Gesprächen befand sie sich auf vertrautem Terrain.
Der Mann legte den Kopf schief. Seine Stirn furchte sich. Menschliche Mimik. Ziemlich gut gelungen.
Johanna lächelte. »Gute Geschichten lügen, um die Wahrheit zu sagen.«
»Oh.« Die fahlgrauen Augen zuckten und flimmerten, aber Johanna erschienen sie jetzt nicht mehr ganz so flach. »Gibt es viele solcher ›Geschichten‹?«, fragte er und wackelte heftig mit den Fingern, so als wollte er nach etwas greifen.
»Sehr viele.« Johanna wies auf die Tische mit den Neuheiten. »Und es werden ständig neue geschrieben.«
Unzählige Fragen lagen ihr auf der Zunge: Wo kam er her? War er wirklich ein »er«? Wie viele seiner »Landsleute« gab es noch auf der Erde? Waren sie Touristen oder nur auf der Durchreise? Was war mit der Kundentoilette? Lag es an ihm, dass das Überwachungssystem ausgefallen war? Gab es dort, wo er herkam, auch Bücher – und was für welche? Hatte er überhaupt Geld, um zu bezahlen? Wie kam es, dass er menschliche Schrift lesen konnte? Und wie sahen Menschen in seinen Augen aus? Was sie ihn tatsächlich fragte, war: »Darf ich Ihnen vielleicht ein Buch empfehlen?«
»Das würden Sie tun?« Sein Gesicht hellte sich auf.
»Dazu bin ich da«, sagte Johanna.
Was sollte sie empfehlen? Ulysses? Einen Augenblick lang blitzte das Bild einer riesigen galaktischen Zivilisation vor ihrem inneren Auge auf: Milliarden von tentakelbewehrten Wesen, die gleichzeitig mit der Menschheit den Bloomsday begingen. Oder vielleicht doch eher Shakespeares gesammelte Werke? Sein oder nicht sein unter fernen Himmeln mit grünen Sonnen? Goethes Faust? Harry Potter?
Nachdenklich legte sie die Stirn kraus. Denk nach, sagte sie sich. Bücher sind wie Botschafter. Welchen Botschafter wirst du zu den Sternen schicken? Die Antwort stieg wie selbstverständlich in ihr auf. Natürlich!
Beschwingt schritt Johanna voran. Der Kunde schwebte dicht hinter ihr her. Beim Buchstaben S blieb sie stehen und griff ins Regal. »Man liest sie von vorne bis hinten«, erklärte sie, als sie ihm das Buch reichte. »Das hier ist ein Klassiker. Schauen Sie einfach mal, ob Ihnen das gefällt.«
Johanna verlor die Wette ihrer Kolleginnen. Der schwebende Mann kaufte das Buch nicht. Vielleicht hatte er keine Euros in der Tasche. Aber darum ging es Johanna ja auch nicht. Als sie zum Feierabend hinter den letzten Kunden den Laden abschloss, schwebte er immer noch dort, völlig in das Buch vertieft.
»Verzeihen Sie, wir schließen jetzt.«
Er hob den Kopf, langsam, als koste es ihn große Anstrengung, sich loszureißen. Mit einem letzten bedauernden Blick klappte er das Buch zu und hielt es ihr entgegen.
»Behalten Sie es ruhig.« Johanna lächelte.
Immer noch lächelnd zahlte Johanna den Kaufpreis in die Kasse und sah zu, wie der Mann zurück zur Kundentoilette schwebte, Gullivers Reisen wie einen Schatz unter einen Tentakel geklemmt.
Regine Bott: Der achte Kontinent
»Dein Koffer geht nicht zu!« Ich saß auf dem Gepäckstück, das Markus auf seine Seite unseres französischen Bettes gelegt hatte, und hüpfte auf und ab wie ein Gummiball. »Wie viele dieser langen, unansehnlichen, antiken Unterhosen hast du denn eingepackt? Dir ist schon klar, dass im gesamten Village angenehme Temperaturen herrschen? Und dass wir hier das Meiste zurücklassen müssen?« Das Kofferschloss schnappte endlich ein, und ich seufzte auf. »Warst du überhaupt anwesend, als wir unterschrieben haben? Geistig, meine ich? Oder hast du schon wieder alles vergessen?«
Markus, der schon im Flur stand und versuchte, seine Zahnbürste im prall gefüllten Kulturbeutel unterzubringen, zerrte ungeduldig am Reißverschluss der Waschtasche. »Ich hab’ verdammt wenig dabei!«, brüllte er über die Schulter in Richtung Schlafzimmer. »Wegen der Wakata!«
Ich stand auf, warf einen nostalgischen Blick auf das Bett, in dem wir die letzten Jahre neben- und aufeinandergelegen hatten, riss mich zusammen und ging aus dem Zimmer. »Wegen der was?«
»Der Wakata. Die gibt es doch jetzt endlich regulär im Handel. Wurde auch wirklich Zeit. Die Menschheit hat eine Ewigkeit auf diese Bereicherung warten müssen.« Der Verschluss riss und der Inhalt des Toilettenbeutels ergoss sich auf den Boden. »Verdammt!«, schrie er.
»Welche Wakata?« Ich hielt ihm seine Zahnbürste vor die Nase.
»Na – die Unterhose, die man nicht wechseln muss. Benannt nach dem Taikonauten, der sie vor fast einem halben Jahrhundert getestet hat. Hast du noch einen Ersatzkulturbeutel? Dieser ist …«
»Nein, habe ich nicht«, entgegnete ich und ging erneut in die Knie, um etliche herausgefallene Medikamentendöschen einzusammeln. »Sag mal, wozu brauchst du die Tabletten? Ad Astra. Gegen Raumkrankheit. Hast du Schiss? Sei nicht albern. Thorsten war schon dreimal geschäftlich oben und ihm ist kein einziges Mal übel geworden. Du selbst hast den Hausarztcheck und den Eignungstest erfolgreich hinter dich gebracht, sonst dürften wir gar nicht reisen. Was zum Henker ist los mit dir?«
»Thorsten ist Pilot! Ich hingegen konnte noch nie im Schwebebus gegen die Fahrtrichtung sitzen und jetzt muss ich mit Raketen unter meinem Arsch zum Lunar-Village fliegen!«
Ich schmiss das Döschen zurück in die Tasche. »Zu unserem neuen Zuhause. Zu unserem eigenen luxuriösen Apartment. Zu einem neuen Leben. Für einen Panikanfall ist es ehrlich gesagt ein wenig zu spät.«
»Dafür ist es nie zu spät. Nein, ja, vielleicht – Scheiße, keine Ahnung.« Er hielt den Kulturbeutel in der Hand, als ob er ihn erwürgen wolle.
Markus. Unentschlossen, launisch, abwägend. Zögerlich. Also alles wie immer. Aber man bekommt ja stets die ganze Medaille und lernt mit der Zeit, auch mit deren anderer Seite zu leben.
»Ist mir ehrlich gesagt Jacke wie sonst was«, sagte ich, weil ich wusste, dass argumentieren nichts bringt. Wir hatten uns entschlossen, den Blauen Planeten zu verlassen, neue Jobs angenommen und das Kapitel Erde geschlossen. »Was mir allerdings nicht egal ist, ist das Ding mit dieser Unterhose. Habe ich dich korrekt verstanden? Eine – für … dein ganzes restliches Leben? Und die hast du jetzt an? Tickst du noch richtig?«
»Koichi Wakata hat 2009 seine Unterhose in der ISS einen Monat lang nicht gewechselt, und sie hat keineswegs gestunken«, entgegnete Markus nicht ohne Stolz ob dieser Lektion in Allgemeinbildung. »Und wenn alle Stricke reißen, kann ich mir ja noch eine kaufen.«
»Eine weitere. Welch Weitblick«, spottete ich. »Soweit mir mein Geschichtsunterricht in Erinnerung geblieben ist, bindet diese Taikonauten-Windel die Gerüche nur.« Meine Augenbrauen fuhren angewidert