DIAGNOSE F. Группа авторов
geordneter Mitte-20-Jähriger. Störungsbeginn im Alter von drei Jahren. Wahnhaft (Verfolgungswahn), optische Halluzination (Wachstum des Mondes), selbsterhöhend (agiert Narzissmus sogar vor Gericht aus, ist dabei sehr manipulativ – Gericht tagt wegen ihm nachts).
In seiner Sprechart selbstdarstellerisch, dabei stringente, gebildete Sprache, gedanklich nicht zerfahren, keine Gedankensprünge. Zwar keine verwaschene Sprache, gleichwohl kataton anmutende Wiederholung des Wortes stürzen.
Kein Schuldbewusstsein, Selbstverständnis von Opferrolle (eigene vermeintliche Entführung als Kind im Zusammenhang mit späteren Morden), Abwendung der eigenen Schuld auf Wahnidee, Abwertung der Opfer (mit Mondkalb könnte ein dummer, einfältiger Mensch gemeint sein).
Die vorgenannten ICD-10-Diagnosen F20 und F22 sind für mich ebenfalls fraglich, allerdings auch die F60.2 mit psychotischer Distorsion. In weiten Teilen schließe ich mich dem Kollegen Cernohorsky an. Für die F20 ist das gesamte Funktionsniveau zu hoch und die offenkundigen persönlichkeitsstilistischen Probleme wären hierbei nicht abgedeckt. Auch die Taten (Töten mit einem sichelförmigen Messer) sind symbolisch zu durchdacht und geordnet (nachts losgehen, um zu töten) für eine übliche Tat eines an F20 Erkrankten.
F22, die wahnhafte Störung, ist bei Halluzinationen auszuschließen. Häwelmann berichtet imperative Verhaltensaufforderungen (unklar bleibt, ob optisch oder akustisch) durch den Mond.«
Hein favorisiert die F21, die schizotype (Persönlichkeits-)Störung. Wörtlich steht in der ICD-10: »Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen, zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung. Es lässt sich kein klarer Beginn feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer Persönlichkeitsstörung.«
Nora Hein sieht bei Häwelmann viele dieser Beschreibungen als zutreffend an. Sie argumentiert weiter: »Es ist wie eine Pseudoschizophrenie. Oder auch eine pseudopsychopathische Schizophrenie, die gekünstelte, pathetische Sprechweise, seine ungewöhnlichen Überzeugungen, das ganze, exzentrische Sonderlingsverhalten … Kurz: Wir haben bei der genauen Beschreibung dieser Diagnose ganz klar die Aspekte, die Cernohorsky mit der F60.2 und der psychotischen Distorsion hervorheben wollte.«
Ihrer Meinung nach werden vor allem die frühkindliche Entstehungsgeschichte und das klinische Bild, das ein Zusammenspiel aus affektiver Kühle, gekünstelter Sprechweise, manierierten Äußerungen sowie paranoiden Wahnideen präsentiert, am ehesten durch die F21-Diagnose gespiegelt.
Ich bin sprachlos über diese Wendung. Aber die Herleitung klingt nachvollziehbar. Also spricht mehr für die Diagnose einer schizotypen Störung (F21) als für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)?
Geben wir Jan Cernohorsky die Möglichkeit, zu Frau Heins Ausführungen Stellung zu beziehen. In vielen Punkten stimmt er ihrer Einschätzung zu: »Richtigstellen möchte ich allerdings, dass die von Häwelmann beschriebene Wahrnehmung des Mondes keine Halluzinationen sind, sondern inhaltliche Denkstörungen beziehungsweise Wahnwahrnehmungen. Die Mondwahrnehmung ist eine stark narzisstisch gesättigte Beziehungsfantasie, nahe einem Größenwahn, die die Größe und Bedeutsamkeit des Gedankenautors spiegelt.
Zwar wird die F21 selten vergeben, aber sie könnte tatsächlich gut passen. Auch Häwelmanns Pseudophilosophieren über Moral würde hierzu besser passen; für eine F60.2 wäre dieses Verhalten tatsächlich zu bizarr.
Psychodynamisch gesehen, also ohne Beschränkung auf eine deskriptive ICD- oder DSM-Diagnose, könnte man über einen malignen Narzissmus nach Kernberg sprechen, der nah einer atypischen Psychose ist. Bestimmt wird Häwelmann in jungen Jahren frühkindliche Traumatisierungen erfahren haben, vielleicht eine Bindungsstörung nach Bowlby.
Gut ist die Beobachtung der Kollegin hinsichtlich der Wiederholung des Wortes stürzen, als wäre Häwelmann in Trance und abgekoppelt von der Realität. Auch das ist wieder etwas Bizarres, Rituelles, Magisches …
Wenn ich mir den Vergleich mit Hannibal Lecter in der Filmreihe, gespielt von Anthony Hopkins, erlaube, so fällt mir auf, dass dessen Augen kalt, leer und gefährlich aussehen. Die von Häwelmann hingegen blicken verwundert; er wirkt kindlich. Wir wissen nicht genau, wie Häwelmann das Morden erlebt, also ob das, was er erzählt, eher seiner Selbstdarstellung zuzuschreiben ist oder ob er tatsächlich emotionslos ist. Ist die Verwendung des Begriffs Mondkälber verachtend gemeint?
Ich denke, die Diagnosen F60.2 und F21 liegen nicht allzu weit auseinander. Im DSM-V (siehe Vorwort) gehört die F21 wie die F60.2 zu den Persönlichkeitsstörungen: die schizotype oder schizotypische Persönlichkeitsstörung.
Legt man diagnostisch den Schwerpunkt auf das Bizarre, die Exzentrik, das magische Denken und die vage, gekünstelte Sprache, würde ich tatsächlich ebenfalls die F21 in Erwägung ziehen.«
Ich bin erfreut und endlich zufrieden: Zwei Psychoseexperten nähern sich in ihrer Einschätzung an und einigen sich zu guter Letzt auf eine Diagnose.
Wie schon im Vorwort erwähnt, liegt bei einigen Erzählungen dieser Anthologie das Hauptproblem der Diagnosefindung natürlich in den wenigen zur Verfügung stehenden diagnostischen Informationen, die wir ausschließlich dem geschriebenen Wort der Geschichte entnehmen müssen. Und diese Story ist zudem besonders kurz. Man könnte sagen: Je weniger Informationen vorliegen, desto schwieriger ist es, eine sichere Diagnose zu stellen, und desto mehr interpretativen Spielraum gibt es.
Eine Klarheit bringende diagnostische Befragung des Patienten Häwelmann ist uns leider nicht möglich, ebenso nicht, Rückschlüsse aus weiteren Beobachtungen seines Verhaltens zu ziehen oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit ihm zu erkennen. Insofern stehen uns Psychotherapeuten, Psychiatern etc. im Behandlungszimmer deutlich bessere Möglichkeiten einer verlässlichen Diagnostik zur Verfügung.
Monika Niehaus, die Autorin von »Der Fall Häwelmann«, verfolgte den Entstehungsprozess dieses diagnostischen Kommentars. »Mon dieu, was habe ich dir und euch mit dem Häwelmann angetan! Für mich stand die literarische Figur, die Story, im Vordergrund.
Über die Art der Störung habe ich mir keine näheren Gedanken gemacht. Und jetzt habt ihr den Salat! Ich finde es übrigens positiv, einen solchen Fall zu diskutieren und damit zu belegen, dass das menschliche Gehirn, das bislang komplexeste Organ im ganzen Universum, widersprüchlich ist und manchmal in keine Schublade passt – und dass gerade bei den wenigen zur Verfügung stehenden Symptomen mehrere Möglichkeiten denkbar sind.
Viel Misstrauen erregender finde ich zu große Sicherheit …«
Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag
Ich liege auf dem kalten Stahltisch. Ich bin nackt. Ich kann mich nicht bewegen. Sie sind da, um mich herum. Ich spüre ihre Anwesenheit, aber ich kann sie nicht sehen. Die Lampe blendet mich. Ich blinzele. Eine Träne rinnt mir aus dem Augenwinkel, läuft an der Schläfe hinab. Das Salz brennt auf meiner Haut, aber ich kann mich nicht kratzen.
Das passiert gar nicht wirklich, sage ich mir. Du träumst. Du musst nur aufwachen und alles ist wieder gut. Als könne er meine Gedanken lesen, fasst einer von ihnen nach meinem Kopf. Kann er meine Gedanken lesen?
Ich spüre die ledrige Haut an meiner Stirn. Sie ist viel zu warm, wie bei einem Menschen, der hohes Fieber hat. Und eigenartig weich und nachgiebig. Wie Gelatine. Als säßen keine Knochen unter der Oberfläche. Unmöglich, sich sowas einzubilden. Ich träume nicht. Das hier passiert wirklich.
Noch mehr Hände. An meinem Bauch. Auf