Das brennende Meer. Erik Eriksson

Das brennende Meer - Erik Eriksson


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zusammenhängendes System erstellen, und das werde ich seiner Königlichen Majestät vorschlagen. Die Übung heute hat mich von der Vorzüglichkeit des Systems überzeugt. Du, Johanna, bist uns eine große Hilfe gewesen.«

      Er hob sein Glas, hielt jedoch in der Bewegung inne. »Ein Glas für Johanna«, sagte er.

      Birgitta kam ihm zu Hilfe. Sie reichte Johanna ein Glas, goss ein wenig Wein ein, zog sich zurück.

      »Ein Hoch also auf unser System, das den Menschen die Möglichkeit geben soll, einander näher zu kommen«, sagte er.

      Er wandte sich Johanna zu, die an ihrem Glas nippte, sie war Wein nicht gewohnt, er war stark.

      »Hier ist eine kleine Anerkennung für dich, Johanna«, sagte Edelcrantz.

      Er streckte die Hand aus, gab Johanna eine große Silbermünze, sie nahm sie entgegen, knickste und merkte, wie sie etwas errötete.

      Dann wandte sich Edelcrantz seinem Tischnachbarn zu. Johanna zog sich zurück, steckte die Münze in ihre Schürzentasche und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Sie half Birgitta, Teller und Gläser hinauszutragen. In der Küche holte sie die Silbermünze hervor und sah zu ihrem Erstaunen, dass es ein ganzer Reichstaler war. Soviel Geld hatte sie noch nie besessen.

      Das Schweigen

      Eines Tages kam Johannas Mutter ins Posthaus. Sie hatte etwas Wichtiges zu berichten. Von der Kirche war eine Nachricht gekommen, der Pastor wollte etwas über die vier Männer sagen, die seit dem vergangenen Herbst vermisst wurden.

      »Am kommenden Sonntag sollen wir zusammen in die Kirche fahren«, sagte Maria. »Ich möchte, dass du rechtzeitig nach Hause kommst.«

      Maria kehrte zurück nach Byholma, Johanna ging wieder an ihre Arbeit. Sie fürchtete sich vor dem, was der Pastor zu sagen hatte.

      Sie fuhren gegen acht Uhr morgens los, es war der erste Sonntag im Mai. Ruben hatte das Pferd vor den Wagen gespannt, er saß zusammen mit Filip auf dem Kutschbock. Johanna saß mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder hinten, wo etwas Heu ausgelegt worden war. Sie hatte ihren Arm um Lars gelegt, den sie lange nicht gesehen hatte, und versuchte, möglichst weit entfernt von Filip zu sitzen.

      Sie fuhren ein Stück, stiegen bei der Steigung, die zu dem Meilenstein hinaufführte und auf dem stand, dass es noch elf Meilen bis Stockholm waren, wieder ab. Dann kamen sie nach Tomta und erblickten die eisfreie Bucht und die Höfe auf der anderen Seite, kamen an der Fähre bei Norrfjäll vorbei, passierten Byle und Edeby. Lars war im Heu eingeschlafen, Johanna beobachtete die Wagen der anderen Kirchgänger, die in dieselbe Richtung unterwegs waren.

      Sie ließen Pferd und Wagen bei den anderen Wagen neben dem Glockenturm stehen. Das Pferd erhielt ein wenig Heu in einem Futtersack. Es war halb elf.

      Als sie die alte Steinkirche betraten, war diese schon zur Hälfte mit Gemeindemitgliedern gefüllt. Sie fanden auf der schmalen Empore auf der rechten Seite Platz, die gegenüberliegende Empore war schon voll. Das kleine Gebäude fasste vielleicht fünfzig Personen, jetzt füllten sich die Bänke, bevor der Pastor auf die Kanzel stieg.

      Nach Psalmen, Bibelsprüchen und Betrachtungen kam der Pastor auf das zu sprechen, worauf die Familie Nygren und drei andere Familien aus Byholma gewartet und wovor sie sich gefürchtet hatten. Nur Johanna dachte, dass der Pastor eigentlich nichts wirklich wusste, er sagte nur das, was er glaubte.

      »Vier unserer Gemeindemitglieder haben uns verlassen«, begann der Pastor. »Alle sind achtbare Männer aus Byholma. Sie sind während eines Sturmes auf dem Meer verschwunden, und sie sind zweifellos im Meer versunken und dort umgekommen. Nur der Allmächtige weiß, wo sie jetzt ruhen. Die Verunglückten waren, wie ihr wisst, folgende Nachbarn, Väter und Ehemänner.« Der Pastor zählte die vier Namen auf, Johanna kannte sie gut, es waren ihre Nachbarn in Byholma. Auch der Name ihres Vaters wurde genannt. Aber Johanna wusste, dass sich der Pastor irrte. Ihr Vater würde zurückkehren, er war vielleicht von einem fremden Schiff gerettet worden und wartete nun in einem anderen Land.

      Als sie die Kirche verließen, gaben mehrere Leute Johannas Mutter die Hand und murmelten etwas, und sie murmelte ebenfalls etwas. Auch Johanna wurden einige Hände entgegengestreckt, einer der mitfühlenden Kirchgänger war Karl David Larsson vom Hofe Norrgården aus ihrem eigenen Dorf. Er war noch nicht ganz zwanzig Jahre alt, sie kannte ihn als hilfsbereiten jungen Mann, jetzt lächelte er sie freundlich an und drückte ihr lange die Hand.

      Johanna teilte die Trauer nicht, sie war sich sicher, aber sie erzählte niemandem, was sie wusste und fühlte. Auf dem Rückweg nach Byholma weinte ihre Mutter leise vor sich hin. Auch sie behielt das, was sie dachte, für sich.

      Johanna blieb nach dem Kirchgang noch eine Weile zuhause in Nygården. Ihre Mutter freute sich darüber, sie saßen zusammen und unterhielten sich, meist über die täglichen Arbeiten. Sie sprachen auch über Lars, und Johanna gab zu, dass sie sich Sorgen machte.

      Nach der letzten Schweineschlachtung war Lars zwei Tage lang verschwunden gewesen, vor kurzem war er wieder weggelaufen. Er weigerte sich zu sagen, wo er sich aufgehalten hatte. Maria hatte den Jungen gezüchtigt, um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, aber er hatte geschwiegen.

      Später am Tag war Johanna eine Weile mit Lars allein. Sie fragte, ob er erzählen wolle, wo er gewesen sei. Sie flüsterte ihre Frage, damit kein anderer sie hören konnte.

      »Schreib es auf«, flüsterte sie.

      Sie gingen zusammen hinaus, gaben vor, etwas draußen bei den Weiden zu tun zu haben, blieben an einem Holzstapel stehen, der an einem Abhang stand, wo das Schmelzwasser Grus und Sand geglättet hatte; Johanna suchte einen spitzen Zweig, brach ein kurzes Stück ab, schrieb einige Wörter in den Sand: BEI WEM?

      Dann gab sie Lars den Zweig, trat beiseite, um ihn ungestört schreiben zu lassen. Er schrieb, ging weg, Johanna kam näher und las: BEIM SCHREI.

      Sie tauschten wieder die Plätze, Johanna schrieb: WESSEN SCHREI?

      Lars schrieb: LEBEN SCHREI.

      Mehr schrieb er nicht, sie gingen schweigend zurück. Johanna glaubte, dass sie verstanden hatte, aber sie war sich nicht sicher. Ehe sie ins Haus gingen, nahm sie die Hand ihres Bruders.

      »Komm zu mir, wenn du Hilfe brauchst«, sagte sie. »Du kannst bei mir bleiben, wir müssen zusammenhalten.«

      Lars antwortete nicht, aber Johanna wusste, dass er verstanden hatte. Sie gingen ins Haus hinein. Lars setzte sich neben den Kamin, Maria stellte ihm warmen Saft hin.

      Das Schweigen hielt weiter an. Lars antwortete nicht mehr, wenn er angesprochen wurde. Man merkte, dass er alles verstand, was gesagt wurde, aber er weigerte sich zu reden, und Johanna nahm an, dass das seine Art war, sich zurückzuziehen, sich unerreichbar zu machen für all das Böse, das ihm widerfahren war.

      Im Laufe des Frühjahrs ging Johanna mehrere Male mit Lars in den Wald. Sie schrieben Wörter in den Sand, immer einfache Wörter, schwer zu deuten. Ehe sie zurückgingen, wischten sie die Spuren ihres stummen Zwiegesprächs aus.

      Zwischen Maria und Johanna bestand noch immer etwas von der alten Vertrautheit, obwohl Marias Trauer über den verschwundenen Nils Johanna bedrückte. Deshalb sprachen sie lieber über andere Dinge. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Maria den Nachbarssohn Karl David erwähnt.

      »Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, lässt er dich grüßen«, sagte sie. »Ich glaube, er mag dich.«

      Johanna antwortete nicht, und das hatte Maria auch nicht erwartet.

      Ende Mai trafen die Schwalben ein. Sie bauten ihre Nester unter den ausladenden Dächern des Posthaus-Stalles, der Sommer näherte sich.

      Schiffe legten im Hafen an. Ein Mann aus Signilskär erzählte von dem Unglück mit dem Postboot im vergangenen Herbst, als die vier Männer umgekommen waren. Einige Fischer hatten gesehen, wie die Toten an einer Landzunge vorbeigeschwemmt worden waren, aber die Wellen waren hoch gewesen, und die Dunkelheit war hereingebrochen, sodass niemand die Leichen hatte bergen können. Am nächsten Tag waren sie verschwunden, waren vom Wind hinaus aufs Meer getrieben


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