Das brennende Meer. Erik Eriksson

Das brennende Meer - Erik Eriksson


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gewusst, jetzt aber war es ganz sicher. Alle wussten auch, dass diejenige, die die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, das Recht hatte, sie zu behalten, und deshalb drang diese Bestätigung nicht bis zu Johanna durch.

      In den folgenden Jahren arbeitete Johanna weiter im Posthaus. Gelegentlich hielt sie sich wie früher ein paar Tage auf dem Hof auf. Die Brüder ihrer Mutter arbeiteten, wenn sie Lust hatten, die Ernte fiel unterschiedlich aus, aber Schnaps gab es immer. Großmutter Magdalena war 1804 gestorben, das Schweigen um Lars hatte sich verdichtet.

      Johanna kannte sich immer besser mit dem Telegrafen aus, es kam sogar vor, dass sie sich gegen alle Vorschriften hin und wieder für Albert um die Station kümmerte, wenn die anderen Burschen frei hatten.

      Draußen in Europa wütete der Krieg. Wenige Länder nur hielten sich heraus, junge Männer starben zu Tausenden auf den Schlachtfeldern, Städte wurden zerstört, Menschen in die Flucht getrieben. Napoleons Armeen waren zu Land siegreich, England aber beherrschte die Meere. Die Misshelligkeiten zwischen Schweden und England hörten auf und wurden durch Zusammenarbeit ersetzt. Die Abneigung Gustav IV. Adolfs gegenüber Napoleon wurde immer größer, aber es gab viele Schweden, die den französischen Herrscher als den Friedensfürsten einer neuen Zeit der Freiheit betrachteten.

      Die Könige und Fürsten Europas ergriffen für und gegen Napoleon Partei. Die Russen wechselten die Seiten und bedrohten Schweden. Das wunderte die Leute an der Küste Roslagens nicht, sie wussten seit Alters her, wo ihr Feind saß.

      Eines Tages wurde dann auch Grisslehamn vom großen europäischen Krieg getroffen.

      II. DIE ZEICHENDEUTER

      Das Schiff und der Künstler

      Im Sommer 1807 kam die Wärme im Mai und hielt sich – abgesehen von einigen kühleren Tagen mit leichtem Nieselregen in der Woche nach Mittsommer – bis Ende August. Während der heißesten Zeit war der Himmel Tag für Tag wolkenlos. Es vergingen Wochen, ohne dass es regnete, das Meer lag spiegelglatt da, Trockenheit und Windstille folgten. Es kam oft vor, dass die Mannschaft des Postbootes den ganzen Weg von Grisslehamn nach Ekerö rudern musste, nicht die leiseste Brise kam ihr zu Hilfe. Es kamen da viele schweißtreibende Stunden mit schlappem Segel auf dem Meer zusammen.

      Große Schiffe trieben bisweilen tagelang ohne Wind auf dem Åländischen Meer. Wenn sie in die Nähe von Grisslehamn kamen, konnte es vorkommen, dass ein kleines Boot zu Wasser gelassen wurde, Seeleute an Land ruderten und darum baten, Briefe abgeben zu dürfen; sie wussten offenbar, dass der Ort Postverbindungen zu Städten nah und fern hatte.

      Draußen vor dem Hafen lag ein großes englisches Kriegsschiff still auf dem Wasser. Auf einer Klippe auf der Nordseite der Bucht saß ein Mann mit Papier und Stiften. Er zeichnete das Schiff in allen Einzelheiten ab.

      Johanna hatte das englische Schiff gesehen, alle in Grisslehamn hatten es gesehen, man hatte ja Zeit genug, um zu schauen und sich zu wundern. Als das Schiff direkt vor der Hafenbucht lag, war Johanna gerade in der Küche des Posthauses; sie stieg in das obere Stockwerk und blickte durch das Fenster an der nördlichen Giebelseite.

      Birgitta war nicht mehr im Posthaus. Sie hatte im Sommer 1804 Niklas Persson aus Tomta geheiratet und ihr erstes Kind geboren, einen wohlgestalteten Jungen. Jetzt war sie Hausfrau und erwartete ihr zweites Kind. Johanna hatte Birgittas Platz als zweite Hausmagd im Posthaus eingenommen.

      Gegen fünf Uhr nachmittags hatte das englische Schiff Grisslehamn verlassen. Johanna hatte unten im Posthafen etwas zu erledigen, auf dem Rückweg stieg sie auf den kleinen Felsen vor dem Posthaus. Dort begegnete sie einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war um die vierzig, groß, dunkelhaarig und hielt sich sehr gerade. In der einen Hand trug er eine kleine Kiste und in der anderen hielt er einen Stoß Papier.

      Johanna hatte den Mann schon von weitem erblickt, aber trotz des Abstandes meinte sie, etwas Bekanntes an seiner Art, sich zu bewegen, erkennen zu können; und als sie diese Beobachtung gemacht hatte, folgte ein Durcheinander von aufblitzenden Erinnerungsbildern und gemischten Gefühlen: Wiedererkennen, Unruhe, Sehnsucht, Zweifel, das ist er, ja, nein, das kann er nicht sein.

      Sie verlangsamte ihre Schritte, sah den Mann näher kommen, und immer noch ähnelte er dem verschwundenen Vater, oder dem ein wenig älteren Vater, so wie er jetzt aussehen müsste.

      Nach der ersten überrumpelnden Gefühlswelle folgten unsortierte und verwirrende Gedanken. Johanna wollte umkehren und weglaufen oder auch dem Mann entgegenstürzen oder auch so tun, als ob sie jemand anders war, all das während weniger Sekunden.

      Sie ging weiter auf den Mann zu; natürlich war er ein Fremder. Dann fiel ihr ein, dass ihr das schon vorher einige Male passiert war. Sie hatte den verschwundenen Vater kommen sehen: überwältigendes Glück, Zweifel, Enttäuschung, Einsamkeit.

      Sie hätte lernen müssen, dagegen anzugehen, um nicht verletzt und noch einmal verlassen zu werden. Das hatte sie sich selbst gesagt, aber jetzt passierte es schon wieder, einige quälende Sekunden lang.

      Als der Mann noch etwa dreißig Meter von ihr entfernt war, begann er zu lächeln; er lächelte die ganze Zeit über, auch als er stehen blieb und sich vorstellte.

      »Guten Tag, mein Fräulein«, sagte er. »Ich bin ein Künstler aus Stockholm, der hier zu Besuch ist, mein Name ist Per Johan Malmgren, ich bin gerade angekommen und habe mich ein wenig umgesehen. Wir haben ein wunderbares Wetter, nicht wahr?«

      Er hatte die kleine Kiste abgestellt, jetzt reichte er ihr die Hand. Johanna ergriff sie, es war eine warme, weiche Hand. Er lächelte die ganze Zeit über.

      Auch Johanna nannte ihren Namen und erzählte, dass sie im Posthaus arbeite. Sie war allerdings nicht der Meinung, dass das Wetter schön sei, denn sie wusste, dass der Boden Regen brauchte und dass der Seefahrt der Wind fehlte; das jedoch sagte sie dem fremden Mann, der sich Malmgren nannte, nicht. Er lächelte immer noch, und Johanna überlegte, ob sein Gesicht immer den gleichen, freundlichen Ausdruck zeigte. Jetzt glich er ihrem Vater weniger, der oft ernst gewesen war. Aber die Haltung war dieselbe, der gerade Rücken, die Sicherheit und das Gefühl der Geborgenheit, das sie in der Nähe des Fremden verspürte.

      Sie gingen ein Stück des Weges gemeinsam, Per Johan Malmgren erzählte, dass er bei einem Bauern in Tomta ein Zimmer gemietet habe, er wollte eine Weile bleiben und malen und zeichnen. Vielleicht könnte ihm Johanna, wenn sie Zeit hatte, gelegentlich die Gegend zeigen?

      Johanna antwortete, dass das sicher möglich sei, an einem Abend oder an einem Sonntag, wenn sie nicht arbeitete.

      Malmgren wollte wissen, wo er nach ihr fragen könne, ohne sie zu belästigen.

      Sie sagte, er könne ja immer im Posthaus fragen, denn dort würde sie sich meist aufhalten.

      Die Nächte waren mild, die Sterne standen bleich über dem blauschwarzen Wasser. In der Nähe des Meeres ist es ja eigentlich nie still, auch kleine Wellen rauschen, das Meer murmelt und flüstert, wenn es nicht lärmt und furchterregend ist. Jetzt jedoch herrschte eine ungewöhnliche Stille, das Wasser lag glatt da, die Wellen ruhten sich aus, es fehlte etwas, und die Küstenbewohner, die an die ständigen Geräusche gewöhnt waren, fühlten sich nicht ganz wohl.

      Eines Abends saß Johanna da und wartete auf Geräusche, die nicht kamen. Es war spät, aber immer noch hell, denn es war die erste Woche im Juli. Sie verließ den Strand, spürte den Duft, der von den Weiden aufstieg, blieb an einem Sanddornstrauch stehen, sah, dass es viele unreife Beeren gab, und dachte, dass die Beeren in diesem Jahr wohl einen kräftigen Geschmack haben würden, da die Sonne so unermüdlich schien. Aber ein trockener Sommer bedeutete auch immer kleine Beeren und wenig Saft. Sie ging weiter, dachte über die Sanddornernte nach, bei der sie ihrer Mutter zu helfen pflegte, ging in Gedanken versunken, merkte nicht, dass ihr jemand folgte.

      An einer Weide in der Nähe von Orneviken hatte sie derjenige, der ihr folgte, fast eingeholt. Da hörte sie die Schritte und drehte sich um. Es war Karl David vom Hof Norrgården, er hob grüßend die Hand.

      »Ich habe dich hoffentlich nicht erschreckt?«, sagte er.

      »Nein, du erschreckst mich doch nicht, Karl


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