Das brennende Meer. Erik Eriksson

Das brennende Meer - Erik Eriksson


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die Folgen zu tragen, wenn ihre Brüder wütend wurden. Dem wollte sie ihre Mutter nicht aussetzen.

      »Feiner Besuch«, murmelte Filip.

      Er ging an den Schrank, goss sich einen Schnaps ein, trank ihn im Stehen aus, goss nach.

      »Ich bin gerade dabei zu gehen«, sagte Johanna.

      »Ist alles in Ordnung draußen in der großen, weiten Welt?«, fragte Ruben, der jetzt ebenfalls in die Küche gekommen war.

      »Ja, es ist alles wie immer«, antwortete Johanna.

      »Und du hast Zeit, uns zu besuchen?«, sagte Filip.

      Er setzte sich Johanna direkt gegenüber, stellte den Schnapsbecher vor sich auf den Tisch und betrachtete sie. Er lächelte, und sie wusste nicht, ob er nun Spaß machte, oder ob es höhnisch gemeint war. Sein Mundgeruch schlug ihr entgegen. Es hatte einen Augenblick gedauert, ehe der faulige Gestank sie erreicht hatte, doch jetzt wurde sie plötzlich davon getroffen, und sie konnte ihren Ekel nicht unterdrücken.

      »Man kommt, wenn es gerade passt«, grinste Filip.

      Johanna erhob sich, nickte den Brüdern ihrer Mutter zu, gab ihrer Mutter die Hand und strich Lars über die Wange. Dann ging sie zur Tür und fühlte einen merkwürdigen kalten Zorn in sich aufsteigen. Während einiger Augenblicke erfüllte sie ein grenzenloser Hass auf Filip. Dann ergriff sie die Klinke, und das verheerende Gefühl war verschwunden.

      Durch die beschlagene Scheibe

      Der September kam mit Abkühlung und Regen. Die Feuchtigkeit kam jedoch für die Wiesen und Wälder viel zu spät, die Blätter an den Bäumen hatten schon begonnen, sich gelb zu färben, die Beeren waren klein und süß von der Sonne, Saft gab es kaum in diesem Jahr.

      Johanna war nach dem Besuch auf Nygården, bei dem Lars die Bibel gelesen hatte, nur noch einmal dort gewesen. Dieser Besuch war noch kürzer als der vorherige ausgefallen, und als sie ins Posthaus zurückkam, hatte sie ein schlechtes Gewissen.

      Auf ihrer Mutter ruhte die gesamte Arbeitslast, dazu die muffigen Männer und ein Sohn, der ständig verschwand und nicht mithalf. Johanna wusste, dass sie zuhause gebraucht wurde, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Arbeit im Posthaus aufzugeben, sie war ihr Leben geworden, all die Menschen, die Verbindungen mit der Welt. Denn das Posthaus in Grisslehamn lag an einer Hauptverkehrsstraße, das hatte Johanna gemerkt. Oft wussten die Leute im Posthaus eher als die Obrigkeit in Stockholm, was sich in fremden Ländern zugetragen hatte.

      Byholma war nur eine halbe Wegstunde vom Posthaus entfernt, aber es war auch eine Wanderung aus einer alten in eine neue Zeit. Johanna hatte einen Blick in die Welt geworfen, und sie wollte nicht zurück in die Unwissenheit und das Schweigen. Aber dieser Entschluss kostete sie auch ihre Selbstachtung. Sie hatte ihre Mutter, die sie brauchte, im Stich gelassen.

      In diesen Zeiten gab es viele Neuigkeiten, und oft waren sie beunruhigend. Anfang des Monats hatte ein Reisender berichtet, dass englische Schiffe Kopenhagen bombardiert hatten. Jetzt befand sich auch Dänemark auf der Seite Frankreichs im Krieg. Norwegen gehörte ja zu Dänemark, und das bedeutete, dass Schweden jetzt von allen Seiten bedroht war.

      Ende September hielt sich wieder ein Kurier für mehrere Stunden im Posthaus auf und wartete auf Weiterbeförderung. Er erzählte, dass die Russen an der finnischen Grenze aufrüsteten.

      An einem dieser Tage half Johanna den Kindern des Postmeisters beim Packen; sie sollten nach Stockholm fahren. Da hörte sie, wie die eine Tochter zu ihrer Schwester sagte, dass es sicherer sei, in der Hauptstadt zu leben. An demselben Nachmittag ging Johanna mit einem Essenskorb hinauf zur Telegrafenhütte. Es war Montag, der 28. September 1807. Viel später sollte sie sich gerade an dieses Datum erinnern.

      Sie hatte sich wie immer eine Weile in der Telegrafenstation aufgehalten, hatte mit dem Signalisten geredet, hatte gefragt und gebeten, durch das Teleskop schauen zu dürfen. Sie war inzwischen mit dem Signalsystem gut vertraut. Seit dem Tag vor vielen Jahren, als sie von Edelcrantz Unterricht erhalten hatte, hatte sie sich immer wieder bemüht, das Signalsystem besser zu beherrschen. Mit der Zeit war sie eine richtig gute Signalistin geworden. Albert Rask wusste, dass er ihr die Station anvertrauen konnte, wenn er mit seiner Verlobten hin und wieder einen Spaziergang im Wald machte. Das war natürlich streng verboten, aber er verließ sich auf Johanna.

      Sie hatte die Vorschriften gelesen, die innen in dem Telegrafenhäuschen angeschlagen waren. Dort stand unter anderem, dass der Telegrafist, der seinen Dienst vernachlässigte, entweder sechzehn Reichstaler Strafe zu zahlen hatte, oder eine Körperstrafe erhielt.

      Es wurde als ein sehr ernstes Vergehen angesehen, sich von seinem Wachdienst zu entfernen. Trotzdem tat es Albert, und Johanna merkte, dass er sehr großes Vertrauen in sie setzte. Während seiner Abwesenheit war sie sehr aufmerksam, richtete die ganze Zeit den Blick durch das Teleskop, wagte kaum zu blinzeln. Und sobald sie eine Mitteilung auf der Tafel in Signilskär sah, übertrug und bestätigte sie diese und notierte die Mitteilung auf einem Stück Papier.

      An diesem Tag hatte sie eine Botschaft empfangen. Sie besagte, dass ein Kurier mit dem Schiff unterwegs sei und ohne weitere Verzögerung Pferd und Wagen für die Weiterfahrt nach Stockholm benötige.

      Johanna wurde unruhig. Würde das Schiff des Kuriers ankommen, ehe Albert zurück war, und wie eilig war die Weiterbeförderung? Sie überlegte, ob sie hinunter ins Posthaus laufen und von dem Kurier berichten und dann schnell wieder in die Telegrafenstation zurückkehren solle. Aber sie begriff, dass sie sich nicht so lange von dem Telegrafen entfernen durfte, da ja neue Mitteilungen eintreffen konnten. Sie verließ das Teleskop und sah durch die Tür nach draußen, konnte jedoch Albert nirgendwo entdecken.

      Er kam nach einer halben Stunde und erschrak, als Johanna berichtete, was passiert war. Sie musste versprechen, nichts zu erzählen, und dann eilte sie zurück ins Posthaus mit einer schriftlichen Mitteilung von Albert.

      Eine Stunde später traf der Kurier auf einer Postjacht ein, einem Segelboot mit Deck und kleiner Kajüte, bedeutend größer als die kleinen Postboote. An Bord befand sich noch ein Offizier mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern; sie alle wollten sofort in die schwedische Hauptstadt weiterreisen.

      An diesem Tag fuhren mehrere Wagen aus Grisslehamn ab, auch kamen einige mit Besuchern an, unter ihnen war ein Feldwebel aus Stockholm. Er sollte eine Zeitlang in der Hütte des Postschaffners Nyström wohnen, er hatte einen Auftrag auszuführen für die königliche Telegrafenanstalt, wie die Behörde in Stockholm hieß. Johanna hörte abends von dem Feldwebel, der im Kontor des Postmeisters zu einer Besprechung erwartet wurde.

      »Johanna soll ein einfaches Abendessen vorbereiten«, hatte die Frau des Postmeisters ausrichten lassen.

      Johanna nahm an, dass Wein und einige kleine Gerichte serviert werden sollten, geräucherter Lachs und Brot und ein paar andere Kleinigkeiten. Sie bereitete alles vor, brachte die Speisen und Getränke hinein; die Herren hatten sich schon im Salon vor dem Kachelofen niedergelassen. Es war kühl, man benötigte ein Feuer.

      Der Feldwebel blieb in seinem Lehnstuhl sitzen, verbeugte sich jedoch leicht vor Johanna, etwas, was nie vorzukommen pflegte. Die Gäste beachteten die Mägde nicht, das wurde als unvereinbar mit der Würde des Höherstehenden angesehen, ja sogar als kriecherisch.

      Johanna stellte das Essen auf einen Seitentisch, deckte den niedrigen Tisch zwischen den Sesseln, servierte, goss ein, zog sich in die Küche zurück, kam wieder in den Salon, wartete auf Anweisungen.

      Sie stand im Dunkeln, der Schein vom Kachelofen erreichte sie gerade eben, die Flammen der beiden Talglichter flackerten unruhig im Zug, der von den undichten Fenstern herrührte. Vielleicht war Johanna wie ein Schatten am Rand der beleuchteten Fläche zu sehen, ein dienender Geist, und das war ja auch ihre Aufgabe. Trotzdem sah der Feldwebel mehrere Male zu ihr hinüber, blickte lange in ihre Richtung, so als ob er sie suchte. Als sie an den Tisch trat, um die Gläser nachzufüllen, sah sie sein Gesicht. Und jetzt trafen sich ihre Blicke.

      Später am Abend dachte sie ein paar Mal an ihn. Sie wusste nicht, wie er hieß.

      In den darauf folgenden


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