Das brennende Meer. Erik Eriksson

Das brennende Meer - Erik Eriksson


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die mit dem Postboot hinausfuhren. Er hatte gesagt, dass das Wasser zwischen Loskäret und dem Festland befahrbar sei, sogar zwischen dem Festland und den äußeren Schären gab es eine Fahrrinne, hatte er gesagt.

      Per Johan hatte sich für die Hilfe bedankt. Er wollte nicht mehr lange in Grisslehamn bleiben, er hatte die Zeichnungen gemacht, die er brauchte, andere Pflichten riefen ihn jetzt. Er wollte jedoch Johanna gerne noch einmal treffen, vielleicht konnten sie einen Spaziergang machen, ehe er abreiste?

      Sie verabredeten sich für denselben Abend.

      Sie gingen hinaus bis Skatudden. Er hatte ihre Hand ergriffen, und sie fühlte sich sicher, es kam ihr vor, als ob sie wieder mit ihrem Vater im Dunkeln durch den Wald ging, und er sie an der Hand hielt.

      In der darauf folgenden Woche regnete es zum ersten Mal richtig kräftig. Johanna befand sich auf dem Weg nach Hause, zum Hof Nygården, und sie war aufgebrochen, als der Regen eine kurze Pause eingelegt hatte; aber bald begann es wieder zu regnen, und sie war nass, ehe sie zuhause angekommen war.

      Sie ging in Gedanken versunken. In letzter Zeit war viel geschehen. Zwei Männer hatten sie treffen wollen, beide waren älter als sie, Karl David würde in wenigen Jahren dreißig, Per Johan war noch älter, aber dagegen hatte sie nichts. Beide hatten sich ihr gegenüber freundlich und aufmerksam verhalten. Plötzlich sah sie sich selbst mit einem eigenen Kind. Aber als sie darüber nachdachte, wünschte sie sich keinen der beiden Männer als Vater für ihr Kind. Beide waren freundlich und zuvorkommend, aber sie wusste, dass sie für keinen von beiden Liebe empfand.

      Die Vorstellung von einem Kind wurde beiseite geschoben von dem Gedanken an den drohenden Krieg. Bis jetzt hatte noch niemand deutlich ausgesprochen, Schweden würde in den großen Krieg mit hineingezogen werden, aber man hatte trotzdem inzwischen den Eindruck, dass die Gefahr eines Krieges immer näher rückte.

      Ein schwedischer Kurier aus Petersburg war auf dem Weg nach Stockholm vorbeigekommen und hatte auf Pferd und Wagen gewartet. Johanna hatte den müden Mann, der in Gesellschaft des Postmeisters aß, bei Tisch bedient. Sie hatte Teile des Gesprächs gehört. Der Kurier hatte nicht viel erzählt, aber sie begriff trotzdem, dass er schlechte Nachrichten mitbrachte.

      Spät am Abend hörte sie, wie der Postmeister und Magister Lindman über den Krieg sprachen. Johanna hatte erfahren, dass sich Frankreich und Russland geeinigt hatten, sie forderten, dass Schweden alle Häfen für englische Schiffe sperren und England den Krieg erklären sollte. Falls König Gustav IV. Adolf sich weigern sollte, würde man Schweden als Feind betrachten.

      Lindman hatte gesagt: »Der König will nicht einsehen, was das Beste für das Land ist.« Darauf hatte der Postmeister geantwortet: »Wir dürfen in diesem Haus solche Äußerungen nicht erlauben, lieber Lindman.«

      Johanna hatte zugehört und sich die Worte gemerkt, jetzt dachte sie wieder daran, überlegte und fühlte sich beunruhigt, ging im Regen nach Hause und kümmerte sich nicht darum, dass sie nass wurde.

      Sie ging nach Hause, um ihre Familie zu besuchen, nicht um über Nacht zu bleiben. Sie übernachtete jetzt nur noch sehr selten dort. Während der ersten Jahre im Posthaus war sie bisweilen mehrere Tage zuhause gewesen, das war mit Laura und der Frau des Postmeisters so vereinbart worden. Als Birgitta jedoch ihre Stelle aufgab, wurden die Anforderungen, die an Johanna gestellt wurden, größer. Sie war nicht durch eine Kleinmagd ersetzt worden, obwohl Laura das so gewollt hatte. Es war jedoch die Frau des Postmeisters, die über das Haushaltsgeld bestimmte.

      Als sich Johanna jetzt dem Hof näherte, stürmte eine Flut von Gedanken auf sie ein: Männer, Kinder, Kriegsdrohung, Unruhe, Zukunft, Dinge, die sie in der Zeitung gelesen hatte, und dann der verschwundene Vater, der sich immer noch irgendwo in ihren Gedanken befand. Kurze Erinnerungsbilder, die Kindheit, das Warten, wenn er auf See war, die Sorge der Mutter, das Nachhausekommen, seine warme Hand, das Schlafen in der Kammer der Eltern, seine ruhigen Atemzüge.

      Immer war der Vater zugegen, als Erinnerung, als Sehnsucht und nagende Ungewissheit, trotz all der Jahre, die vergangen waren. Noch hatte niemand Johanna von den genaueren Umständen des Schiffbruchs erzählt, und sie ließ niemanden hinein in ihren Traum, in dem der Vater immer noch lebte. Zwischen ihr und dem Vater bildeten die Gedanken eine Brücke in die Vergangenheit, eine Hoffnung, die manchmal durch plötzliche Zweifel und Einsicht aus ihrer Verankerung gerissen wurde.

      Dann jedoch drehte sie die Erinnerung zurück, stellte sich wieder dieselben Bilder vor, fand bald zurück auf sicheren Grund. Es war eine gute Angewohnheit, verknüpft mit anderen Gedanken, verwoben mit dem Alltäglichen. Der Vater lebte für immer in Johannas Bewusstsein, unter allem anderen, wie das rieselnde Schmelzwasser im Frühjahr unter der dünnen Eisschicht, die sich des Nachts zwischen den Grasbüscheln vor dem Haus gebildet hatte, ehe sie den Fuß darauf gesetzt hatte und durchgestiegen war, ehe das leichte, krachende Geräusch kam, einen unbedeutenden Augenblick, den sie verlängerte und an den sie sich zu erinnern suchte, wenn sie alles andere von sich weggeschoben hatte.

      Sie ging über den Hofplatz, sah das Haus, die Hopfenranken, die Johannisbeerbüsche, sie war zuhause, und jetzt dachte sie nur noch an das, was sie sah.

      Ihre Mutter Maria saß am Küchentisch, vor sich hatte sie Dill und frische Kartoffeln, Felchenfilet und Zwiebeln, sie schnitt und hackte. Johanna setzte sich ihr gegenüber, ergriff ein Messer und begann, eine der gelben Zwiebeln zu schälen.

      »Ist Lars zuhause?«, fragte sie.

      »Ich wünsche, ich wüsste es«, antwortete Maria.

      »Ist er häufig nicht da?«

      »Er war den ganzen Sommer über viel zuhause, aber in der letzten Zeit ist wieder irgendetwas vorgefallen.«

      »Etwas mit Filip?«

      »Ja.«

      »Hat Lars erfahren, dass ich kommen wollte?«

      »Nein, aber trotzdem weiß er es auf irgendeine seltsame Weise.«

      Johanna nahm sich die nächste Zwiebel. Ihre Mutter schichtete Felchenscheiben und Zwiebelringe mit dem Dill und den Kartoffelscheiben in einem Tongefäß übereinander. Johanna hatte gefragt, was sie wissen wollte. Maria hätte fragen können, wie es im Posthaus stand, aber sie tat es nicht.

      Lars kam am späten Nachmittag. Er setzte sich an den Tisch, begrüßte Johanna nicht, sah sie an, lächelte vielleicht, ein schwaches, unruhiges Lächeln.

      Sie grüßte, fragte, wie es ihm ging, ob er etwas Nettes unternommen habe. Sie erwartete keine Antwort, merkte trotzdem, dass er etwas sagen wollte.

      Er trank ein Glas Milch, holte dann die Bibel heraus, schlug sie auf und las darin. Er las recht schnell, wie man der Geschwindigkeit entnehmen konnte, mit der er die Seiten umblätterte.

      Johanna setzte sich neben ihn, beugte sich vor, es war die Offenbarung des Johannes. Lars hielt den Zeigefinger unter die Zeile, die er las. Johanna folgte ihm. Es handelte von den sieben Engeln und den sieben Plagen. Und jetzt hörte Johanna, wie Lars leise vor sich hin murmelte, während er las. Sie neigte sich noch näher zu ihm hin und konnte seine Worte hören:

      »Und ich sah etwas wie ein gläsernes Meer, gemischt mit Feuer, und die Sieger im Kampf gegen das Tier und sein Bild und gegen die Zahl seines Namens standen auf dem gläsernen Meer und trugen Harfen Gottes. Sie sangen das Lied des Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes mit den Worten: ›Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allherrscher; gerecht und wahrhaft sind deine Wege, König der Völker.‹ (15,2-3).«

      Johanna rutschte ein Stück von ihm weg. Er saß immer noch über die Bibel gebeugt da.

      »Ich finde, man soll sich um das kümmern, was Jesus uns lehrt«, sagte sie. »Wer ist dieser Johannes, vielleicht ist er nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, er ist nicht Jesus. Wilde Tiere und furchtbare Strafen, über so etwas spricht Jesus nicht.«

      Lars sah Johanna an, hörte zu, saß schweigend da wie immer.

      Als Johanna aufbrechen wollte, hörte sie, dass die Brüder ihrer Mutter vom Strand zurückgekommen waren. Sie hätte es gerne vermieden, Filip zu treffen,


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