Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book). Группа авторов
Allerdings ließ sich die «Einheit» der Matur im Sinne eines neuhumanistischen Gymnasialprogramms vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Naturwissenschaften nicht aufrechterhalten. Die Typenmatur, die bis Ende des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, war die Lösung des Streits um die Ausrichtung der gymnasialen Maturitätsprogramme.
Eine eidgenössisch anerkannte, aber nach kantonalen und vielfach einzelschulischen Normen definierte Typenmatur war damit zum «Königsweg» in die Universität geworden. Die Verträge zwischen den Gymnasien und den Universitäten wurden so Schritt für Schritt obsolet. Die ehemals lose Koppelung, die Weick (1976) für die Organisation von Bildungssystemen als typisch bezeichnet hatte, war an der Schnittstelle zwischen Gymnasium und Universität über die Anerkennungsbedingungen für die kantonalen Maturitätsausweise enger geworden. Die eidgenössische Anerkennung kantonaler Maturitätsausweise war zugleich eine einfache Lösung für ein komplexes Problem im föderalistischen Bildungssystem. Im Effekt regelte aber spätestens seit der Revision von 1925 (MAV, 1925) der Bund die kantonalen Maturitäten im Sinne von Rahmenvorgaben (Dauer, Fächer, Anteile von Fachbereichen, formale Prüfungsvorgaben, Maturanoten und Bestehensnormen, Maturitätsausweis) und damit weitreichend auch die Zulassung zu den kantonalen Universitäten.
Während der Bildungsexpansionsphase der 1950er bis Mitte der 70er Jahre sollte aufgrund des Nachwuchsmangels und der Forderung nach besseren Zugangschancen für bislang benachteiligte Gruppen die höhere Bildung geöffnet werden (vgl. Criblez, 2001). Die Maturitäts-Anerkennungsverordnung wurde deshalb in kurzer Zeit zweimal revidiert (vgl. Egger, 1987; Meylan, 1996): 1968 wurde der Maturitätstyp C den andern Maturitätstypen gleichgestellt und die Lateinauflage für das Medizinstudium aufgehoben (MAV, 1968). Zudem wurde der «gebrochene» Bildungsweg (Kurzgymnasium im Anschluss an eine Sekundar- oder Bezirksschule) aufgewertet. Vier Jahre später (MAV, 1972) wurden zwei neue Maturitätstypen geschaffen, um sogenannte «Begabungsreserven» besser fürs Gymnasium mobilisieren zu können. Insgesamt blieben aber Funktion und Konstruktion der Matur weitgehend erhalten.
4Die Maturitätsreform 1995 und die Folgen – ein Ausblick
Schon im Umfeld der Revision 1968/1972 war die Anerkennung weiterer Maturitätstypen diskutiert und zum Teil gefordert worden. In den 1980er Jahren kam es aber zu einem Umdenken: Die Matur sollte nicht weiter differenziert, sondern wieder stärker an gemeinsamen Anforderungen ausgerichtet werden. Mit der Maturitätsreform 1995 wurden deshalb die Maturitätstypen abgeschafft und eine «Einheitsmatur» mit zehn Grundlagenfächern, Wirtschaft + Recht, einem Schwerpunkt-, einem Ergänzungsfach und einer Maturarbeit eingeführt. 2018 wurde zudem beschlossen, zusätzlich Informatik zu einem obligatorischen Fach zu machen. Zudem wurden die Bestehensnormen neu definiert. Die Reform wurde nun erstmals von Bund und Kantonen (EDK) gemeinsam angegangen: Sie erließen je einen identischen Rechtstext und schufen mit einer Verwaltungsvereinbarung die Grundlagen für gemeinsame Organe, insbesondere die Eidgenössische Maturitätskommission.
Mit der Reform war eine formale Vereinheitlichung der Maturitätsprogramme verbunden: Die Differenz zwischen unterschiedlichen gymnasialen Programmen ist dadurch geringer geworden und besteht eigentlich nur noch im Schwerpunkt- und Ergänzungsfach. In allen andern Fächern gelten – anders als bei der früheren Typenmatur – für alle Schülerinnen und Schüler dieselben Leistungserwartungen. Die von der Reform zunächst erwartete Individualisierung durch Wahlmöglichkeiten im Schwerpunkt- und Ergänzungsfach ist weitgehend nicht eingetreten, weil die Gymnasien aus Ressourcengründen nicht das ganze Spektrum von Schwerpunkt- und Ergänzungsfächern anbieten können.
Die gymnasiale Ausbildung hat durch die Schaffung der Berufsmatur und der Fachmatur in den letzten zwanzig Jahren Konkurrenz erhalten: Sie führt nicht mehr als einziger Weg zu einem Hochschulstudium. Gleichzeitig ist sie durch den Numerus clausus in Medizin nicht mehr hinreichender Zulassungsausweis für dieses Studium. Durch die Möglichkeiten der Passerelle von der Berufsmatur und der Fachmatur zur Universität und die Zulassung zum Studium ohne Matur (in Genf und Freiburg) wurde die Bedeutung als Zulassungsausweis ebenso relativiert wie durch die selektiven Assessmentphasen an den Hochschulen. All dies sind Gründe, sich um die Sicherung der Matur als allgemeiner Hochschulzulassungsausweis bildungspolitisch zu kümmern. Der Streit zwischen den allgemeinbildenden und den berufsbildenden Schulen um schulleistungsstarke Schülerinnen und Schüler oder um die Maturitätsquoten43 dient angesichts des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels, der die Sekundarstufe II in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren wesentlich verändern wird, nicht der Lösung anstehender gesellschaftlicher Probleme.
Literatur
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