Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book). Группа авторов

Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book) - Группа авторов


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Lernen nicht primär die zeitliche und örtliche Flexibilisierung im Vordergrund, sondern das Angebot von personalisierten Lernumgebungen, mit denen die Schülerinnen und Schüler gemäß ihren Lernvoraussetzungen und -präferenzen selbstbestimmte Lernwege wählen können. Damit kann die Abhängigkeit von der Lehrperson reduziert und den Lernenden mehr Verantwortung für den eigenen Lernprozess übertragen werden. Ob und in welchem Ausmaß auch eine zeitliche und örtliche Flexibilisierung mit einer entsprechenden Reduktion der Präsenzzeit sinnvoll ist, bleibt offen, weil die Schule nicht nur Bildungsraum, sondern auch Lebensraum ist und die Bildungsinstitution dementsprechend auch Funktionen der Betreuung und Aufsicht übernimmt. Die Präsenzpflicht könnte durch flexibles Lernen jedoch den individuellen Bedürfnissen angepasst werden, um außerschulische Aktivitäten (z. B. Sport, Kunst, gesellschaftliches Engagement) zu fördern. Dies gilt verstärkt auch für die vorgelagerten Bildungsstufen (Primarschule und Sekundarstufe I), bei denen eine zeitliche und örtliche Flexibilisierung inklusive Reduktion von Präsenzzeiten aus pädagogischen Gründen von Lehrpersonen wie auch Elternschaft kaum akzeptiert würde.

      4Herausforderungen und Grenzen des flexiblen Lernens

      Wie unsere bisherigen Ausführungen zeigen, haben Bildungsinstitutionen auf verschiedenen Bildungsstufen in den letzten Jahren versucht, flexibles Lernen zu implementieren, wobei es weder sinnvoll noch praktikabel ist, in allen Dimensionen Flexibilität anzubieten. Aktuelle Studien zeigen, dass sich Lernende dessen durchaus bewusst sind und keine maximale Flexibilität in allen Dimensionen wünschen (Li, 2014; Tucker & Morris, 2012). Auf negative Effekte von zu viel Flexibilität wird auch von Vertretern der Kognitionspsychologie verwiesen (Corbalan, Kester & van Merriënboer, 2009). Wie Erfahrungen mit sehr offenen Lernumgebungen wie Discovery Learning zeigen (Kirschner, Sweller & Clark, 2006), sind sich insbesondere jüngere und wenig erfahrene Lernende nicht immer bewusst, was für ihren Lernprozess am besten ist, und treffen dadurch suboptimale Entscheidungen. Viele Optionen in sehr flexiblen Lernumgebungen können diesen Effekt – auch als Problem der Untersteuerung des Lernprozesses bezeichnet – verstärken. Zusätzlich sind durch viele Optionen auch laufend Entscheidungen nötig, was kognitive Ressourcen beansprucht und zu einer hohen kognitiven Belastung durch die Selbststeuerung im Lernprozess führen kann (Sweller, 1994).

      Die Einführung von flexiblem Lernen ist durch die Individualisierung und Personalisierung des Lernprozesses für eine Bildungsinstitution und die involvierten Personen häufig mit weitreichenden Veränderungen verbunden, die mit entsprechenden Maßnahmen begleitet werden müssen. Für Lehrende hat flexibles Lernen insbesondere an Hochschulen eine Rollenerweiterung Richtung «Facilitators des Lernens» zur Folge, indem sie elektronische Lernressourcen wie Lernvideos produzieren, Online-Lernumgebungen konzipieren sowie individuelle Lernprozesse ermöglichen, unterstützen und begleiten. Für diese neuen Aufgaben müssen Lehrende mit Kursen, Coaching und Support sorgfältig vorbereitet und begleitet werden, damit keine negativen Veränderungseffekte wie Konfusion, Angst, Frustration oder Widerstand auftreten. Weiter kann die Implementation von flexiblem Lernen durch die Individualisierung und Personalisierung des Lernprozesses für eine Bildungsinstitution und die involvierten Personen aufwendig sein und deren Ressourcen übersteigen. Beispielsweise zeigen die Erfahrungen an der ZHAW bei der Entwicklung des FLEX-Studienformates, dass für eine Veranstaltung von 3 ECTS mit einem Initialaufwand von über 100 Stunden zu rechnen ist.

      Nicht zuletzt ist flexibles Lernen auch für die Lernenden anspruchsvoll, da eine hohe Expertise im Bereich Selbstregulation erforderlich ist. Im FLEX-Studiengang der ZHAW wurden von Studierenden beispielsweise als größte Schwierigkeiten beim flexiblen Lernen «Probleme beim selbstgesteuerten Lernen», «Fehlende direkte Interaktion mit Dozenten/Studenten» und «Schwierigkeiten beim Zeit-Management» genannt (Müller, Lübcke & Alder, 2017). Samarawickrema (2005) weist auch darauf hin, dass Lernende «seem to be extremely teacher reliant, a trait that is counter to flexible, off-campus learner requirements» (ebd., S. 63). Da nicht alle Lernenden über die benötigten personalen Kompetenzen verfügen, um ihren eigenen Lernprozess beim flexiblen Lernen effektiv zu planen, zu organisieren und zu reflektieren, sollten von der Bildungsinstitution entsprechende Fördermaßnahmen wie Kurse und Coaching angeboten werden.

      5Ausblick

      In Zukunft werden Lernende verstärkt selbst darüber entscheiden, wie sie den Lernprozess gestalten, wo und wann sie lernen, und die Lerninhalte nach ihren Interessen und Bedürfnissen ausrichten (Major, 2016). Die Bildungsinstitutionen haben das notwendige Setting zur Verfügung zu stellen, um flexibles Lernen zu ermöglichen. Allerdings ist aufgrund der hohen Investitionskosten bei den Online-Lernumgebungen fraglich, ob eine Bildungsinstitution dazu alleine in der Lage ist oder ob nicht vielmehr Kooperationen nötig sein werden, um den steigenden Ansprüchen der Lernenden zu genügen (Adams Becker et al., 2018). Hilfreich kann dabei die Tendenz zur Harmonisierung der Lernziele und Curricula sein, wie sie momentan beispielsweise in der Schweiz zu beobachten ist (Lehrplan 21 auf Primarstufe und Sekundarstufe 1, basale Kompetenzen auf Gymnasialstufe). Flexibles Lernen kann die Deinstitutionalisierung von Bildung fördern, indem es Lernenden ermöglicht, Ausbildungselemente an verschiedenen Bildungsinstitutionen im Sinne eines Patchworks zu kombinieren (Ehlers, 2018). Dies heißt aber nicht, dass traditionelle Ausbildungsgänge in der Zukunft nicht mehr nötig sind. Die Erfahrungen mit dem FLEX-Studiengang an der ZHAW haben beispielsweise gezeigt, dass die Bedürfnisse der Lernenden sehr verschieden sind und ein Teil der Studierenden klar vorgegebene Strukturen schätzt. Gerade aufgrund dieser Diversität an Bedürfnissen ist flexibles Lernen in der Zukunft gefragt.

      Literatur

      Adams Becker, S., Brown, M., Dahlstrom, E., Davis, A., DePaul, K., Diaz, V., & Pomerantz, J. (2018). NMC Horizon Report: 2018 Higher Education Edition. Louisville: EDUCAUSE. Online: www.educause.edu/horizonreport [30.8.2018].

      Boer, W. de, & Collis, B. (2005). Becoming more systematic about flexible learning: beyond time and distance. ALT-J, 13(1), 33–48. DOI: 10.3402/rlt.v13i1.10971.

      Cedefop (2015). European Guidelines for validating non-formal and informal learning. Luxembourg: Publications Office. DOI: 10.2801/008370.

      Chen, D.-T. (2003). Uncovering the Provisos behind Flexible Learning. Journal of Educational Technology & Society, 6(2), 25–30.

      Cinop (2017). Discover new ways to make education more flexible. s-Hertogenbosch: Cinop. Online: www.cinopadvies.nl/94_3956_Brochure_Flex-Scan.aspx [30.8.2018].

      Corbalan, G., Kester, L., & Merriënboer, J. J. G. v. (2009). Combining shared control with variability over surface features: Effects on transfer test performance and task involvement. Computers in Human Behavior, 25(2), 290–298. DOI: 10.1016/j.chb.2008.12.009.

      Ehlers, U.-D. (2018). Die Hochschule der Zukunft: Versuch einer Skizze. In U. Dittler & C. Kreidl (Hrsg.), Hochschule der Zukunft: Beiträge zur zukunftsorientierten Gestaltung von Hochschulen (S. 81–100). Wiesbaden: Springer VS.

      Eurydice (2014). Modernisierung der Hochschulbildung in Europa: Zugang, Studienerfolg und Beschäftigungsfähigkeit 2014. Eurydice-Bericht. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. DOI:10.2797/71701.

      European Commission, EACEA & Eurydice. (2018). The European Higher Education Area in 2018: Bologna Process Implementation Report. Luxembourg: Publication Office of the European Union. Online: http://ec.europa.eu/eurydice [30.8.2018].

      FH Südwestfalen (2018). Studium Flexibel: Aus zwei mach’ vier. Iserlohn: FH Südwestfalen. Online: www4.fh-swf.de/cms/studium-flexibel/ [30.8.2018].

      HEA (2015). Framework for flexible learning in higher education. Heslington: Higher Education Academy. Online: www.heacademy.ac.uk/system/files/downloads/flexible-learning-in-HE.pdf [30.8.2018].

      Kirschner, P. A., Sweller, J., & Clark, R. E. (2006). Why minimal guidance during instruction does not work: an


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