Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book). Группа авторов

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den Lernmisserfolg. Andererseits garantiert eine gelingende Passung nicht den Lernerfolg; perfektes Lehren kann erfolgreiches Lernen nicht erübrigen. Es kann viele Gründe dafür geben, dass Lernende erfolglos bleiben; Lehrende kontrollieren nur einen Teil beeinflussbarer Bedingungen erfolgreichen Lernens. Insbesondere dürfte es oft sehr schwierig sein, in Misserfolgsfällen die Verursachungs-«Anteile» empirisch exakt und trennscharf auf Lehrende und Lernende «aufzuteilen». Aber – und nur das ist thematisch hier relevant – selbst dort, wo diese Verursachungsaufteilung nicht möglich oder sinnvoll ist, wird dadurch die Differenz zwischen der Verantwortlichkeit für das Lehren und der Verantwortlichkeit für das Lernen nicht aufgehoben.

      Aufschlussreich sind wohl auch Antworten auf die Frage, ob und wie sich die Schlussfolgerungen unterscheiden, die Lehrende und Lernende aus einer Misserfolgsfeststellung ziehen, und auf welche Gegenstände sich ihre kritische Aufmerksamkeit richten muss. Lernende werden über ihr Lernverhalten und den Lerngegenstand (die Mathematik) nachdenken (müssen); Lehrende über ihr Lehrverhalten und mögliche Fehler bei der Organisation der Lerngelegenheiten (freilich domänenspezifisch). Bei Lernenden steht außer dem Lernverhalten der Lerngegenstand im Zentrum kritischer Nachdenklichkeit, bei Lehrenden die jeweils «praktizierte» Lehr-Lern-Theorie.

      (5.3)Das gewichtigere Argument zur Begründung des Erfordernisses, Lehren und Lernen zu unterscheiden, rekurriert auf die Tatsache, dass sich in konkret-praktischen Lehr-Lern-Interaktionen zwei autonome Subjekte gegenüberstehen: die Lehrperson einerseits und der oder die Lernende andererseits. Lehrende und Lernende sind autonome Subjekte eigenen (wenn auch beeinflussbaren) Denkens, Urteilens, Wertens, Wollens, Entscheidens und Handelns und also auch der Zweckbestimmung und der Zweckverwirklichung ihres komplementär aufeinander bezogenen bildungspraktischen Handelns.

      Besonders deutlich wird das dann, wenn Lehrende und Lernende über die Relevanz oder den Stellenwert bestimmter Ziele, Inhalte, Organisationsformen und Erfolgskriterien des Lehrens und Lernens (sehr) verschiedene Auffassungen haben (abgesehen davon, wer die wie etablierte und legitimierte Macht hat, seine Auffassung durchzusetzen) und dass in genau dieser Differenz auch Gründe für Lehr- oder Lernmisserfolg liegen können – beispielsweise wenn Lernende etwas ganz anderes für wichtig halten als die Lehrperson.

      (5.4)Abermals kritisch gefragt: Hat der Lehrende den Zweck des von ihm zu verantwortenden Lehrens denn nicht verfehlt, also erfolglos unterrichtet, wenn der Adressat seiner Lehraktivität etwas anderes für richtig33 oder wichtig hält als er selbst? Wäre umgekehrt die Tatsache, dass Lernende sich den Relevanzbewertungen und Überzeugungen Lehrender (kritiklos) unterwerfen (anschließen), ein Beweis für Lehrerfolg? Dazu:

      –In dem skizzierten Konflikt zeigt sich nun auch inhaltsbezogen die prinzipielle Differenz zwischen der Lehrzielbestimmung Lehrender und der Lernzielbestimmung Lernender: Lernende können etwas anderes für wichtig oder richtig halten und anstreben als Lehrende. Und Lehrende sind «nur» für die Realisierung der Bedingungen zuständig, die im Licht kausalanalytisch bestmöglich abgesicherten Wissens verwirklicht werden müssen, damit Lernende selbst die Bereitschaft entwickeln können zu lernen, was sie gemäß Lehrplan lernen sollen. Aber sie können dem Lernenden nicht ersparen, sich explizit oder implizit dafür oder dagegen zu entscheiden – wie (un-) reflektiert auch immer.

      –Lehrende können Lernende also nicht gegen deren Einwilligung veranlassen, ihre Lernziele und Lernerfolgskriterien zu ändern. Lehrpersonen mögen versuchen, diese Änderung – wie sanft auch immer – zu erzwingen, aber dieser Zwang endet an dem Erfordernis, dass der Adressat des Zwangs in das Erzwungene – wenn auch mit Unbehagen – einwilligen muss; ganz abgesehen von der Frage, ob Zwang etwas mit Lehren, Bildung oder Erziehung zu tun hat.

      –Schließlich können Lehrende – das ist mein wichtigstes Argument – das Ziel verfolgen, Lernende ausdrücklich nicht auf ein inhaltlich bestimmtes Muster erwünschten Verhaltens («richtigen» Wissens und «guten» Handelns) festzulegen, sondern sie zur selbstverantwortlichen Inhaltsbestimmung, -begründung und -beurteilung jener strikt von Lehrzielen zu unterscheidenden Lernziele zu befähigen, die eben nur sie selbst anstreben und verwirklichen (können). Es kann also Ziel des Lehrens sein, die Entwicklung der autonomen Zielsetzungs- und Zielbegründungskompetenz Lernender zu unterstützen – und bewusst darauf zu verzichten, Lernende inhaltlich konkret auf Ergebnisse dessen festzulegen, was sie lernen sollen. Im schulalltäglichen Fachunterricht wird «die Freiheit» Lernender extrem eingeschränkt, selbst zu bestimmen, was sie lernen wollen, und überdies «freihändig» zu entscheiden, was relevant, was richtig und was falsch ist.34 Das stimmt und verdient eine ausführlichere Erörterung. Aber das alles ist mit der Zielsetzung vereinbar, die Urteilskraft Lernender nicht zu domestizieren. Tatsache ist, dass Lernende zu dem, was Lehrende mit ihrem Unterricht erreichen wollen, implizit oder explizit «ja» oder «nein» sagen müssen – und dieses Nein kommt vor. Überdies: Den Corpus jener fachkundlichen Sätze (auch naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts), die zweifelsfrei wahr oder falsch sein können, sollte man nicht unter-, aber auch nicht überschätzen; auch für wahr gehaltene Sätze können strittig sein (vgl. z.B. Vollmer, 1995, S. 54ff.) und sollten – das ist meine Wertung – für kritisches Nach-Denken offen bleiben. Dass auch Lernende Gelegenheit erhalten, denkend und forschend zu erfahren und zu begreifen, dass, inwiefern und warum Sätze strittig sind, und überdies die erkenntniskritische Funktion dieser Zweifel zu erkennen, kann Ziel des Lehrens sein. Lehrende können wesentlich dazu beitragen, dass Lernende die prinzipielle Unabhängigkeit ihres eigenen Denkens, Urteilens, Entscheidens und Handelns erfahren, indem sie als Subjekte der Entwicklung ihrer eigenen Urteilskraft und Urteilszuständigkeit gesehen und respektiert werden.

      –Darüber hinaus unterrichtsalltäglich können Lehrende den Adressaten ihrer Lehraktivitäten Gelegenheit einräumen, an der stets erforderlichen Operationalisierung, Begründung und praktischen Umsetzung jener bildungspolitisch, rechtlich oder administrativ vorgegebenen Ziele35 kritisch-diskursiv zu partizipieren, mit Bezug auf die der Unterricht gesteuert, kontrolliert und beurteilt zu werden pflegt. Dadurch wird die Differenz zwischen den Zuständigkeiten Lehrender und Lernender nicht aufgehoben, sondern bestätigt – vielleicht auch pädagogisiert.

      –Hinzu kommt, dass jedes und so auch das vom Lehrerwollen abweichende Wollen Lernender eine Realisierungsbedingung Erfolg versprechenden Lehrens ist – eine Bedingung, über die Lehrende sich nicht hinwegsetzen dürfen, wenn sie am Erfolg ihrer Arbeit interessiert sind. Vorgefundenes Wissen, vorgefundene Interessen, Orientierungen oder Überzeugungen Lernender können Lehrende veranlassen, ihre Lehrziele oder Lehraktivitäten zu überprüfen (grundlegend dazu Weber, 1919, S. 541), um den bezweckten Erfolg ihrer Arbeit mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erfüllen. So, wie das vom Wollen eines Lehrenden abweichende Wollen und Tun eines Lernenden eine (nicht beliebig) beeinflussbare Realisierungsbe-dingung jedes gezielt um Erfolg bemühten Lehrens ist (dazu Prim, 2001 mit Bezug u.a. auf Ekholm, 1999), so ist umgekehrt das vom Wollen eines Lernenden abweichende Wollen eines Lehrenden eine ebenfalls nur begrenzt beeinflussbare Bedingung Erfolg versprechenden Lernens Lernender.

      (6)Lehrpersonen, die sich entschließen, die Zuständigkeit Lernender für die Inhaltsbestimmung der Lernziele zu respektieren (ausführlich: Heid, 1996), lassen damit ihre eigenen handlungsleitenden Lehrziele nicht offen. Denn sie haben ja ein Ziel – nämlich die Adressaten ihrer Lehraktivitäten als Subjekte ihrer eigenen Lernzielkonkretisierung und -begründung zu respektieren – sowie alles zu unterlassen, was geeignet ist, die Entwicklung der Urteilskraft und Entscheidungskompetenz Lernender zu beeinträchtigen.

      Das führt zu einer weiteren Rückfrage: Liefern die Lehrpersonen sich mit dieser Orientierung nicht jenen Wünschen Lernender aus, die in reformpädagogischer Programmatik oft als «Bedürfnis- oder Adressatenorientierung» bildungspraktischen Handelns postuliert (kritisch dazu Heid, 2003) – und von manchen als «Gefälligkeitspädagogik» (Kraus, 1998)36 diskreditiert werden? Kurze Antwort: Das tun sie nicht, und das können sie auch nicht; denn auch Lehrende sind und bleiben autonome, selbst denkende, urteilende und verantwortliche Subjekte unterrichtlicher Interaktion: Sie rezipieren Bedürfnisse Lernender unvermeidbar selektiv und interpretativ im Licht ihres lehrrelevanten Wissens und Wollens, und sie müssen – mit Bezug auf ihre unterrichtliche Verantwortung – kritisch sondierend, argumentations- bzw. diskursorientiert dazu Stellung nehmen, ohne die Autonomie


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