Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book). Группа авторов
angesehene Postulat eines für Bildung zuständigen Amts- und Würdenträgers: «shift from teaching to learning», das auch unter Bildungswissenschaftlern irritierende Zustimmung erfährt; so, als ob Lehren ohne Lernen (schon sprachlich) Sinn ergäbe – und so, als ob es ein Lernen ohne Lerngelegenheit geben könne, für deren kompetente Gestaltung sich eine wohl begründete und traditionsreiche Zuständigkeit etabliert hat.28
(3)In dieser angeblich neuen «Sicht» bildungspraktischen Handelns spielen Wertungen eine Rolle: Lernende sollen nicht (länger) als Objekte bildungspraktischer «Bearbeitung» bzw. der Belehrung gesehen, sondern als Subjekte des Lernens begriffen und respektiert werden (aktuell z. B. Bohnsack, 2015). Richtig ist, dass Bildung, gleich welchen Verständnisses, durch bewusst darauf zielende Tätigkeiten eines Bildungspraktikers bzw. eines Lehrenden nicht hergestellt, sondern allenfalls ermöglicht werden kann. So richtig und trivial es also ist, dass keine noch so geniale Lehrperson das Selberlernen Lernender erzwingen oder erübrigen kann; dass Lernende also immer nur selbst lernen, was sie lernen, so wichtig ist andererseits, dass es kein Lernen ohne Lerngelegenheit gibt und dass im organisierten Bildungswesen Lehrende für die zielgerichtete Gestaltung externaler Bedingungen Erfolg versprechenden Lernens Lernender (professionell) kompetent – im Sinn von fähig, zuständig und verantwortlich – sind.
(4)Lehren und Lernen hängen also funktional zusammen, obwohl und weil sie sich in Wesen und Funktion unterscheiden. Einerseits gilt: Lehren bezweckt die Ermöglichung und Optimierung erfolgreichen Lernens. Im Bildungssystem lernen Lernende in der lernenden Auseinandersetzung mit bereitgestellten und (didaktisch) aufbereiteten externalen Lerngelegenheiten. Andererseits gilt aber auch: Der von Aktivität Lernender abhängige Lernerfolg Lernender kann aus der Perspektive Lehrender auch als eine von Lehren abhängige Variable und insofern eben auch als Lehrerfolg gedacht und modelliert werden, soweit sich diese Abhängigkeit (kausalanalytisch) nachweisen lässt.29 Wird dadurch der Lernende (zumindest aus der Perspektive Lehrender) nicht doch zum («bloßen») Objekt bildungspraktischer Einwirkung (vgl. z. B. Vogel, 1990; Heid, 1994) und der Lehrende zum «Verursacher» des Lernerfolgs Lernender? Es mag Bildungspraktiker geben,30 die die Adressaten ihrer Arbeit als (passive) Einwirkungsobjekte betrachten und zu «behandeln» meinen. Und das dürfte für die Betroffenen auch keineswegs belanglos sein. Dennoch ist diese Praxis nicht geeignet, die Tatsache außer Kraft zu setzen, dass das, was auch immer als Bildung oder als Lernerfolg bezeichnet wird, niemals von Aktivitäten des Bildungssubjekts bzw. des Lernenden unabhängig ist. Das gilt auch für implizites Lernen (dazu Diederich, 1994). Und es gilt für alle Versuche einer psychischen Überwältigung, beispielsweise um Lernende zu veranlassen, etwas zu denken, zu tun oder zu wollen, was sie selbst gerade nicht wollen. Auch das kann nur über die (oft schmerzhafte) Einwilligung des Gezwungenen in das Erzwungene «gelingen». Dass die Domestizierung des Willens Lernender nicht ohne deren Einwilligung gelingen kann, zeigen ausgeklügelte Vorschläge und Versuche, die die Verwandlung fremdbestimmten Sollens in selbstbestimmtes Wollen bezwecken. So schreibt, um ein erstes von zwei besonders prominenten Beispielen herauszugreifen, Rousseau (1762/1965, S. 265f.): «Lasst ihn [den Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. […] Zweifellos darf es [das Kind] tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut.» In einem ausgefeilteren Vorschlag bezieht Spranger (1959) sich auf die Eigenliebe der Person (des Einwirkungsadressaten) und empfiehlt die «Verwandlung individuellen Geltungsstrebens in die Bereitschaft zur […] Pflichterfüllung». Dabei geht es um Pflichten, von deren Inhaltsbestimmung der Einwirkungsadressat nicht nur ausgeschlossen ist, sondern deren Fremdbestimmung überdies gegen den aktuellen Willen des Interventionsadressaten durchgesetzt werden soll; sonst bedürfte es nicht jener permanenten Erfüllungskontrolle, die Spranger folgendermaßen konkretisiert: «Es wird jeweils ein bestimmter Auftrag erteilt, und der Zögling wird zur Verantwortung gezogen, wenn er ihn nicht erfüllt. So entsteht ein Katalog von kleinen Pflichten auf der einen, ständiger Erfüllungskontrolle auf der anderen Seite» (Spranger, 1959, S. 191). «Von da ist noch der entscheidende Schritt zu tun bis zur freiwilligen [?] Übernahme von Aufgaben, die kein Vorgesetzter gestellt hat und deren Erfüllung niemand überwacht. Damit» – sagt Spranger allen Ernstes – «wäre dann das Ethos der Freiheit erreicht …». Wohl gemerkt: Spranger sagt nicht, dass nach dem Erfolg dieser penetranten Erfüllungskontrolle der Zwang vollendet sei. Nein: Er sagt: Jetzt ist das Ethos der Freiheit vollendet. Derjenige «Drang zur Freiheit», der sich dieser als Erziehung moralisierten Disziplinierung widersetzt, dieser Drang – so Spranger – müsse dadurch gewendet werden, «dass man dem Aufsässigen [!] Leistungen überträgt, die ihm das Gefühl [!] geben, dass man ihn braucht» (ebd., S. 190f., Hervorhebung H.H.).
(5)Worin besteht der Erfolg bildungspraktischen bzw. lehrenden Handelns? Von Erfolg kann nur mit Bezug auf ein Erfolgskriterium gesprochen werden. Wesentliche Bezugsgröße für die Bestimmung dieses Kriteriums ist der Handlungszweck. Handlungseffekte sind nur in dem Maß Handlungserfolge, in dem sie (nachweislich) zur Erfüllung des mit der Handlung Bezweckten beitragen. Nun gibt es aber nicht «den» Zweck oder «das» Ziel, nicht «den» Erfolg bildungspraktischen Handelns und auch nicht «das» Subjekt der Bestimmung «des» Erfolgskriteriums. Lehrpersonen haben professionelle Zuständigkeit dafür – und in diesem Sinn das Lehrziel, dass die Adressaten ihrer Arbeit, also Lernende, Gelegenheit erhalten, erfolgreich zu lernen,31 d. h. ihr Lernziel zu erreichen. Wenn Lehrende – könnte man einwenden – erfolgreiches Lernen ermöglichen und unterstützen wollen, müssen sie sich doch auf die Lernziele der Adressaten ihrer Lehrtätigkeit beziehen. Denn sie können den Erfolg ihres eigenen Handelns nur an der (zu ermöglichenden) Lernziel-Verwirklichung Lernender messen, sofern sie kausalanalytisch auf Lehraktivitäten zurückgeführt werden kann. Ist deshalb nicht doch der Lehrende das Subjekt der Bestimmung (auch) des Lernziels, von dessen Erreichung letztlich abhängt, ob Lehrende erfolgreich gelehrt haben? Hinzu kommt, dass in Lehrplänen Verhaltensweisen32 Lernender beschrieben werden (sogenanntes «Endverhalten» oder Kompetenzen), deren «Herbeiführung» Zweck des durch diese Pläne geregelten Handelns (Unterrichtens) ist. Auch hier geht es um Lernziele. Wie passt das mit der These zusammen, dass Lehrziele und Lehren einerseits und Lernziele und Lernen andererseits strikt voneinander unterschieden werden müssen? Dazu ist Folgendes zu sagen:
(5.1)Lehrende und Lernende haben bei der Realisierung der in Lehrplänen beschriebenen Fähigkeiten oder Kompetenzen Lernender unterschiedliche Kompetenzen. Vereinfachte Beispiele: Der Lehrplan für das Unterrichtsfach Mathematik schreibt vor, dass die Adressaten dieses Unterrichts grundlegende Begriffe, Konzepte, Inhalte, Verfahren der Mathematik lernen sollen. Das müssen Lehrende nicht lernen; Mathematik können sie schon. Sie mögen während des Unterrichtens ihre Mathematikkompetenz weiterentwickeln, aber das ist nicht das, was in Lehrplänen postuliert wird. Außerdem können Lehrende einiges über die (präzisierungs- und differenzierungsbedürftige) Qualität ihres Unterrichts lernen, beispielsweise, wie sich die Entwicklung der mathematischen Problemgenerierungs- und Problemlösungskompetenz der Adressaten des Mathematikunterrichts (lehrabhängig) verbessern lässt. Aber auch dieser Lernerfolg Lehrender darf nicht mit den Inhalts- und Funktionsbestimmungen derjenigen (Lern-)Ziele verwechselt werden, die in Lehrplänen kodifiziert sind.
(5.2)In Lehrplänen kodifizierte Lernziele haben für Lehrende eine andere Funktion als für Lernende: Für Lehrende sind es Gegenstände und Orientierungsgrößen der Organisation ihres Lehrens und zugleich Kriterien, die sie benötigen, um beurteilen zu können, ob sie erfolgreich gelehrt haben. Für Lernende beschreiben diese Ziele zentrale Inhalte ihres Lernens. Ein mathematisches Problem begriffen zu haben, bedeutet für Lernende (vereinfacht): «Jetzt können wir Mathematik.» Für Lehrende heißt das: «Ich habe erfolgreich gelehrt.» Ein möglicher Lernmisserfolg dürfte nur in Ausnahmefällen aus der Tatsache resultieren, dass die jeweils zuständige Lehrperson keine Mathematik «konnte», aber sehr wohl daraus, dass die (internalen oder externalen) Bedingungen erfolgreichen Lernens im Mathematikunterricht nicht berücksichtigt bzw. erfüllt waren. Für die Konsolidierung dieser Bedingungen ist die Lehrperson auch dann zuständig, wenn sie im Lernenden selbst liegen; das wird deutlich, wenn Lehrpersonen sich nicht um die erfolgsrelevanten Wissens-, Könnens- oder Interessensvoraussetzungen der Adressaten ihres Lehrens kümmern. Zur Erfolg versprechenden Organisation von