Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag. Susanne Brandt
bleibt bestehen. Deutsche Schiffe dürfen weiter gekapert werden. [Die Alliierten und die Vereinigten StaatenUSA stellen in Aussicht, während der Dauer des Waffenstillstandes, Deutschland in dem als notwendig anerkannten Maße mit Lebensmitteln zu versorgen.]
17 Alle von Deutschland für Neutrale verhängten Beschränkungen der Schiffahrt werden aufgehoben.
18 Waffenstillstand dauert 30 Tage.39
Am frühen Morgen des 11. November unterzeichnete ErzbergerErzberger, Matthias den Waffenstillstand, sechs Stunden später, um 11 Uhr, nach 1560 Tagen, schwiegen die Waffen. Doch damit war der Krieg noch nicht endgültig beendet. Dreimal wurde in den folgenden Monaten der Waffenstillstand verlängert, erst am 16. Februar 1919 auf unbegrenzte Frist.40 Einen Tag später, am 17. Februar 1919, war die vereinbarte Rückführung der rund 190 Divisionen des deutschen Westheeres abgeschlossen. Die Waffenstillstandsvereinbarungen nahmen in vielerlei Hinsicht den Friedensvertrag vorweg. Bereits am 11. November hatten die Alliierten ihre wichtigsten Kriegsziele festgeschrieben: die Rückgabe Elsass-LothringensElsass-Lothringen an FrankreichFrankreich, der RheinRhein als strategische Grenze und die Internierung der deutschen Hochseeflotte bei Scapa FlowScapa Flow. Letzteres war für GroßbritannienGroßbritannien ein zentrales Ziel, denn mit dem Ausbau der eigenen Schlachtflotte hatte Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts die Seemacht gezielt provoziert. Alle Kriegsgefangenen der Siegermächte wurden sofort freigelassen. Ihre genaue Zahl ist sowohl anhand der zeitgenössischen Quellen als auch in aktuellen Darstellungen nur ungefähr zu ermitteln, oft ist nicht eindeutig, auf welches Datum sich die Zahlen beziehen. Eine deutsche Quelle aus dem Jahr 1939 gibt an, dass sich während des Krieges unter anderem 535 411 Franzosen in deutscher Kriegsgefangenschaft befanden, 185 329 Engländer, 2457 Amerikaner, 1 434 529 Russen, 133 283 ItalienerItalien.41 Die deutschen Kriegsgefangenen, 424 157 in FrankreichFrankreich und BelgienBelgien, 328 020 in EnglandGroßbritannien, 49 560 in den Vereinigten StaatenUSA und rund 24 000 in anderen Ländern, verblieben bis zum Abschluss eines Friedensvertrages in den Händen der Alliierten.42
Die deutsche Öffentlichkeit konnte bald der Presse die Waffenstillstandsbedingungen entnehmen. Mit zweitägiger Verzögerung erschienen das Telegramm, in dem Matthias ErzbergerErzberger, Matthias die Bedingungen nannte, zum Beispiel im Vorwärts. Doch die Deutschen waren mit den Unruhen und dem Sturz der Monarchie so beschäftigt, dass das Ende des Krieges in den Hintergrund trat. Zwar wurden die heimkehrenden Soldaten jubelnd begrüßt, in BerlinBerlin von Friedrich EbertEbert, Friedrich mit den Worten »Euch hat kein Feind besiegt«.43 Aber die große Begeisterung über das Ende des Blutbades brandete an anderen Orten auf: In ganz FrankreichFrankreich verkündeten Glocken und Kanonenschüsse um 11 Uhr das Ende der Kämpfe. Schulkinder, Arbeiter und Beamte strömten in ParisParis jubelnd auf die Straßen. Eine Statue, die StraßburgStraßburg personifizierte, war mit Blumen und französischen Fahnen geschmückt. In LondonLondon zogen die Menschen vor den Buckingham Palast, und auch in WashingtonWashington sowie New YorkNew York wogten die Menschen lachend und Fähnchen schwenkend durch die Straßen. In ParisParis trug die Menge eine Strohpuppe, deren struppiger Bart Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II. erkennen ließ. Um den Hals trug sie ein Schild mit der Aufschrift: »Mörder!«, bald darauf brannte die Puppe. Die Wut auf den deutschen Kaiser, den formellen Oberbefehlshaber, der in einem amerikanischen Propagandafilm »The Beast of BerlinBerlin« genannt wurde, war so groß, dass seine Auslieferung und Anklage als Kriegsverbrecher eine Forderung der Siegermächte werden sollte. In WashingtonWashington trugen die Menschen einen rasch aus Tüchern gefertigten Sarg: »Kaisers coffin«. Die britische Wochenschau zeigt Premierminister David Lloyd GeorgeLloyd George, David unter dem Zwischentitel: »Er brachte uns einen ehrenvollen Frieden.«44 In New YorkNew York reckten jubelnde Menschen Zeitungen in die Höhe: »Germany surrenders«, ›Deutschland kapituliert‹ war auf den Titelseiten zu lesen.45 Die Feiern zogen sich bis in den Abend. In ParisParis wurde die Ausgangssperre gelockert, bis 23 Uhr sangen und tranken die Menschen in den Bars.
Bereits ein paar Tage später hatten die Franzosen einen weiteren Grund zum Feiern: Am 17. November kehrte Elsass-LothringenElsass-Lothringen offiziell zurück. Französische Truppen drangen direkt nach dem Waffenstillstand bis zum linken RheinuferRhein vor. Mit ihrer Ankunft wurde das gesamte deutsche System weggefegt. Arbeiter- und Soldatenräte wurden aufgelöst, Kaiserstandbilder umgestürzt, alte französische Namen wiedereingeführt: Die Regionen hießen nun wieder Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle. Zwar konnte die deutsche Sprache nicht abgeschafft werden, doch ihr Gebrauch wurde eingeschränkt. Ab Dezember 1918 durfte nach 22 Uhr auf den Straßen nicht mehr deutsch gesprochen werden. Im Verlauf einiger Wochen wurden Wege und Orte umbenannt: FochFoch, Ferdinand, JoffreJoffre, Joseph, PoincaréPoincaré, Raymond und ClemenceauClemenceau, Georges ersetzten BismarckBismarck, Otto von, Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II. und HindenburgHindenburg, Paul von.46 Deutsche Bürgermeister und die Elsass-LothringerElsass-Lothringen, die für die Deutschen gearbeitet hatten, wurden unverzüglich durch Personen mit einer unbestritten profranzösischen Haltung ersetzt. Somit bestätigte der Versailler Vertrag Monate später lediglich einen Zustand, der seit dem Waffenstillstand bereits eingeleitet worden war.
Die Regierung beschloss eine radikale Entfernung der deutschstämmigen Bevölkerung sowie die Beseitigung des deutschen wirtschaftlichen Einflusses und setzte die Maßnahmen ebenso schnell wie schonungslos um. Deutsche erhielten als Personalausweis die »Karte D«. Ihre Ausweisung begann im Dezember 1918, jeder durfte 30 Kilogramm Gepäck, Proviant für zwei Tage und 200 Mark mitnehmen. Viele verließen das Land schon vor der Ausweisung. Sie gaben Häuser und Besitz ohne Hoffnung auf Rückkehr auf. Einige Franzosen versuchten, manchmal mit Erfolg, ihre deutschen Freunde zu schützen, doch von November 1918 bis Anfang 1920 wurden rund 100 000 Menschen ausgewiesen. Die Wiedereingliederung in das französische Verwaltungs- und Rechtssystem war 1925 im Wesentlichen abgeschlossen, der Weg dorthin erfolgte allerdings nicht ohne Krisen, etwa bei der Wiedereinführung des Francs, der Übernahme der Departementstruktur und der Einführung der französischen Gesetzgebung.47 Für die »Entflechtung« der Wirtschaft des Reichslandes mit Deutschland (die lothringische Stahlindustrie benötigte beispielsweise Koks aus dem RuhrgebietRuhrgebiet) wurde eine Übergangszeit von fünf Jahren vereinbart, danach wurden die drei Departements in das französische Zollsystem eingegliedert.
Viele Bürger, nicht nur die Ausgewiesenen, erlebten sich als Verlierer. Elsass-LothringenElsass-Lothringen war keineswegs eine homogene Einheit, zwischen Elsässern und Lothringern bestanden viele Unterschiede in der Lebensweise, Religion und Sprache. Gemeinsam war ihnen, dass sich in den Jahren der Zugehörigkeit zu Deutschland spezifische soziale und kulturelle Verhaltensweisen herausgebildet hatten. Einige als positiv wahrgenommene Errungenschaften der deutschen Periode sollten daher bewahrt bleiben, zum Beispiel die Sozialgesetzgebung sowie die Schul- und Religionspraxis. Die Franzosen empfanden die Rückführung von Elsass-LothringenElsass-Lothringen als Wiedergutmachung für das Unrecht des FrankfurterFrankfurt am Main Vertrages von 1871 und als Sieg des Rechts. Für die Deutschen schien der Verlust aber nie so schmerzhaft wie die Gebietsverluste im Osten. Nach wenigen Jahren hatte die große Mehrheit der Bevölkerung in den wiedererlangten Provinzen die Rückkehr zu FrankreichFrankreich akzeptiert, selbst diejenigen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten vollkommen deutschsprachig geworden waren.48
Am 4. Dezember verließ der amerikanische PräsidentWilson, Woodrow auf der George Washington mit seiner Frau, seinem Arzt Dr. Grayson, dem italienischen und französischen Botschafter, Leibwächtern vom Secret Service und einem großen Stab an Mitarbeitern die Vereinigten StaatenUSA. Seine Überzeugung, dass er persönlich an der PariserParis Friedenskonferenz teilnehmen müsse, hatte nicht nur Außenminister LansingLansing, Robert verärgert. Auch in der Heimat regte sich Widerstand, vor allem bei den Republikanern, die seit den Kongresswahlen im November 1918 über eine Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus verfügten. Der Republikaner Theodore RooseveltRoosevelt, Theodore attackierte WilsonWilson, Woodrow scharf und warf ihm vor, er habe die 14 Punkte weder mit dem Kongress diskutiert noch der Öffentlichkeit erläutert.49 Doch WilsonWilson, Woodrow, als Demokrat nun in der Opposition, ignorierte die Kritik. Am 2. Dezember 1918 erklärte er dem Kongress:
»Wir sind dabei, diesem Frieden eine Ordnung und eine Organisation zu geben, nicht nur für uns, sondern auch für alle Völker der Erde, sofern sie uns gestatten, ihnen zu dienen. Wir streben nach internationaler Gerechtigkeit und nicht nur nach heimischer Sicherheit.«50