Pflanzenalchemie - Ein praktisches Handbuch - eBook. Manfred M. Junius
denn das Ganze ist stets mehr als die Summe seiner Teile. Deshalb haben zum Beispiel auch die analytischen Untersuchungen alter italienischer Meistergeigen nie das Geheimnis der berühmten Geigenbauer von Cremona entschleiern können. Die ganze wissenschaftliche Untersuchung des alten Geigenbaus, einschließlich der Analyse der berühmten Lacke, konnte nie zu einer neuen Höhe der Geigenbaukunst führen, da sie lediglich das »Solve« vollzog, aber nicht das »Coagula«. Die Qualität der Meisterinstrumente Stradivaris und des Guarneri del Gesu blieb bis heute unerreichbar. Nach dem »Geheimnis« der Meister von Cremona gefragt, sagte ein berühmter italienischer Geigenbauer der Gegenwart, der ein altes Instrument buchstäblich zu neuem Leben erwecken konnte, ebenso klar wie lapidar: »Es gibt da keine Geheimnisse im Sinne von Tricks, wie Sie vielleicht denken. Die ›Geheimnisse‹ bestehen in der echten Erkenntnis der Naturgesetze und ihrer Hintergründe, welche die alten Meister besser verstanden als wir heute.« Ähnlich verhält es sich mit der Spagyrik. Der Spagyriker soll »im Lichte der Natur stehen«, um noch einmal mit Paracelsus zu sprechen.
Ein Zitat aus dem R. g Veda soll in diesem Zusammenhang noch angeführt sein: »Die Struktur reinen Wissens – Ausdruck des Veda – ist in dem unsterblichen Feld transzendentalen Bewusstseins enthalten, in welchem alle Impulse schöpferischer Intelligenz (oder die Naturgesetze), welche für die Organisation der ganzen Schöpfung verantwortlich sind, ihren Sitz haben.«7 Und dazu schließlich noch ein Ausspruch eines indischen Gurus unserer Zeit, Maharishi Mahesh Yogi: »Wissen ist in Bewusstsein strukturiert.«
Mit Recht bewundern wir die erstaunliche Höhe metallurgischen Wissens im alten Indien und im alten China. Die Bhas.mas der indischen Ayurvedamedizin, die chemisch gesehen Metalloxide sind, haben sich in alter wie in neuer Zeit als ausgezeichnete Heilmittel erwiesen.8 So zeigt zum Beispiel das »Lohā-Bhaṣma«, ein besonders hergestelltes Eisenoxid, keine der bekannten Nebenwirkungen vieler westlicher Eisenpräparate, also weder Verstopfung noch Magenbeschwerden; es geht rasch in das Blut über und erhöht den Hämoglobingehalt schnell, während viele westliche Eisenpräparate, selbst wenn diese intravenös gespritzt werden, zu Magenbeschwerden und anderen Nebenwirkungen führen können. Diese ayurvedischen Bhas.mas werden durch Kalzinierung (einen Ascheprozess, auf den wir später eingehend zurückkommen werden) von Metallen und anschließendes Eintauchen in Pflanzensäfte hergestellt. Dieser Prozess wird viele Male wiederholt, bis das Präparat den erwünschten Zustand hat.
In der ersten Abbildung erkennen wir einen hermetisch verschlossenen Kolben, in dem vier Aggregatzustände und ein Pelikan angedeutet sind. Die Erhöhung wird in dem Pelikan genannten alchemistischen Gefäß (siehe auch Seite 168) vollzogen, das heißt in einem Rückflusssystem. Die zweite Abbildung zeigt die erhöhte Essenz, das Flüchtige (weiß) ist zugleich oben und unten und rechts und links, ebenso das Fixe (dunkel). In der Mitte des Kreises befindet sich der aus dem Feuer wiederaufsteigende Phönix, während die den Kolben umgebende Flammenaura die nun befreite Energie in Form von Strahlung andeutet. Die Aggregatzustände sind hier vereinigt, der »Wolkenkreis« läuft hindurch. Beide Bilder entstammen dem Manuskript aus dem 18. Jahrhundert »Sapientia veterum philosophorum sive doctrina eorundem de summa et universali medicina« (Französische Nationalbibliothek, Paris).
Alchemisten sprechen gelegentlich von Erhöhung (Exaltatio) der Grundsubstanzen. Spagyriker sind der Ansicht, dass diese Erhöhungen bestimmte Energien freilegen. Betrachten wir einmal die beiden Reproduktionen aus dem Manuskript »Sapientia veterum philosophorum sive doctrina eorundem de summa et universali medicina«, ein Manuskript des 18. Jahrhunderts, das sich in Paris befindet.9
Um zu dieser Freilegung höherer Energien zu kommen, bedarf es der alchemistischen Kunst. Hören wir, was Paracelsus in dem Buch »Paragranum« dazu sagt: »Da die Natur äußerst subtil und durchdringend in ihren Manifestationen ist, kann sie ohne die Kunst nicht gebraucht werden. In der Tat produziert sie nichts, was in sich perfekt ist, sondern der Mensch muss es perfekt machen, und diese Perfektionierung wird Alchemie genannt (…). Und da die Medizin nicht ohne die Teilnahme des Himmels handeln darf, muss sie mit dieser handeln. Daher musst du sie behandeln, um sie von der Erde zu befreien; da diese nicht vom Himmel regiert wird, muss sie in der Bereitung der Arznei entfernt werden. Wenn du die Medizin von der Erde geschieden hast, gehorcht sie dem Willen der Sterne, das heißt, sie wird von diesen geleitet werden.« Wenn Paracelsus hier von Erde spricht, bedeutet dies hier alles, was unrein ist und unnötigen Ballast bildet. Eine alchemistische Weisheit lautet: Alchimia est separatio puri ab impuro (»Alchemie ist die Trennung des Reinen vom Unreinen«). Wir dürfen das Wort Erde hier nicht mit dem Element Erde verwechseln, da die Elemente in der spagyrischen Arbeit gereinigt werden.
Während bei der Bereitung einfacher Tinkturen die Pflanzenrückstände nach dem Auszug weggeworfen werden, enthalten pflanzliche spagyrische Aufbereitungen stets die durch Veraschung und anschließende Kalzinierung des Pflanzenrückstands gewonnenen Salze. Diese sind teilweise wasserlöslich und werden aus dem Kalziniergut mit destilliertem Wasser ausgezogen. Durch Abdampfen des Wassers können sie sichtbar gemacht werden. Die nicht wasserlöslichen Salze werden meistens (aber nicht immer!) als »Caput mortuum« (Totenkopf) oder »verdammte Erde« verworfen, während die wasserlöslichen als »Sal salis« (Salz des Salzes) in die Aufbereitung eingehen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Salze große Heilwirkungen haben und daher auch oft für sich allein gebraucht werden.
Wie alle alchemistischen Aufbereitungsmethoden betrachtet die Spagyrik die sogenannten drei philosophischen Prinzipien, auch »Essentiale« genannt, als die wesentlichen Träger der Heilkräfte. Diese drei Essentiale werden als »Merkur« (Quecksilber), »Sulphur« (Schwefel) und »Sal« (Salz) bezeichnet. Sie sind nicht mit der in der heutigen Chemie üblichen Bedeutung dieser Wörter zu verwechseln. Es handelt sich lediglich um Decknamen. Durch besondere Verfahren, die wir später kennenlernen werden, können diese Essentiale aus der jeweils verwendeten Spezies herausgelöst werden (Separation). Anschließend werden sie gereinigt (Purifikation) und zuletzt wieder vereinigt (Kohobation oder chymische Hochzeit).
Für lange Zeit widmete sich die moderne westliche Pharmakologie der Erforschung einzelner aktiver Stoffe, die aus den Spezies extrahiert wurden. Sie vollzog das »Solve«, aber nur in seltenen Fällen das »Coagula«. Trotzdem haben diese modernen Untersuchungen durchaus ihren Wert. Sie ermöglichten zum Beispiel die genaue Feststellung kritischer Mengen bestimmter Substanzen, ihr spezifisches Gewicht sowie viele weitere genaue qualitativ-quantitative Experimente.
Durch die Pionierarbeit der Ernährungswissenschaftler und der Heilpraktiker, die den völligen Bruch mit der Vergangenheit nicht vollzogen hatten, sondern an der Tradition anknüpften, gewann die ganzheitliche Verarbeitung und Verabreichung von pflanzlichen Heilmitteln wieder an Boden. Wenn auch einige Wissenschaftler bis heute am äußersten Spezialistentum festhalten und daher vielfach den großen Gesamtüberblick verloren haben, ist doch die Wissenschaft als Ganzes auf dem Weg zu einer neuen integralen Perspektive. Dazu könnten viele Zitate angeführt werden, hier nur einige wenige: »Unsere tägliche Erfahrung bis ins kleinste Detail scheint so sehr in die groß angelegten Züge des Universums eingegliedert zu sein, dass es praktisch unmöglich ist, die zwei als getrennt zu betrachten.«10 Die moderne Physik lehrt uns, dass der »Grundstoff« des Universums ein Energiefluss in Feldern ist, von welchen die Materie lediglich eine Manifestation darstellt. Schon Einstein sagte: »Das Feld ist die einzige Wirklichkeit.«11 – »Es war nicht möglich, die Gesetze der Quantentheorie zu formulieren, ohne sich auf Bewusstsein zu beziehen.«12
Das Große Werk: Die Jungfrau Alchemia bzw. Maria als Eingeweihte auf der Mondsichel bildet das Zentrum des Tafelbildes. Über ihr schwebt Hermes/Merkur, Schirmgottheit der Alchemie. Im Zentrum sieht man den alchemistischen Prozess, umgeben von den Elementen mit der Zusammenführung von Merkur (Adler; Luft und Wasser) und Sulphur (Löwe; Feuer und Erde) zur gekrönten Tinktur. Die Planeten sieht man im oberen Bildteil und spiegelbildlich auch im unteren Bereich. (Detail eines Tafelbildes aus der Amtsstube des Klosters Lorch, 17. Jahrhundert, Foto Olaf Rippe)
Die genaue Präzisierung biochemischer Vorgänge stellt sich nicht nur