Monster. Brigitte Jünger
Weg gemeinsam nach Hause zu gehen, das sie miteinander teilten. Es passte einfach und fühlte sich gut an. Aber sie war nirgendwo zu sehen.
„Na, wie lief es?“
Vince schon wieder! Er blieb einfach vor ihm stehen. Aber vielleicht wusste er, wo Alva blieb. „Sind alle fertig mit der Klausur?“ Zusammen mit der Frage warf Felix einen schnellen Blick über den Schulhof und die Schüler, die dem Ausgang entgegenströmten.
„Ich war der Letzte“, antwortete Vince. „Gehst du ein Stück mit?“
Felix hatte eigentlich keine Lust, den Heimweg zusammen mit Vince anzutreten, aber er fürchtete, sich möglicherweise wieder irgendeinen dummen Kommentar anhören zu müssen, wenn er es nicht tat, von wegen Romeo wartet lieber noch oder etwas Ähnliches. Vince konnte sowas raushauen und lag damit doch vollkommen daneben. Außerdem wusste Felix ja tatsächlich nicht, ob Alva überhaupt noch kommen würde. Wie blöd, jetzt war doch Wochenende.
Kaum hatten sie die Schule hinter sich gelassen und waren um die nächste Ecke gebogen, hielt Vince an einem Betonpoller an, setzte sich und holte seinen Tabak aus der Tasche. Felix beobachtete, wie er das Papierchen aus dem Beutel zog, Tabak darauf streute und beides mit geschickten Fingern in eine ordentliche Zigarette verwandelte. Vince betrachtete sie noch einmal und sah dann Felix an, als warte er auf eine besondere Belobigung.
„Kann ich mir auch mal eine drehen?“
„Echt jetzt?“ Vince zögerte einen Moment. „Bisher reichte dir doch dein umwerfender Charme! Gib’s zu, ohne den hättest du keinen einzigen Wettkampf gewonnen.“
Felix war nicht nach Scherzen zumute.
„Vor allem, weil dieser Charme unter Wasser so besonders gut zur Geltung kommt!“
Oh, Mann, der war gut. Normalerweise fiel Felix die passende Antwort immer erst ein, wenn er abends im Bett lag.
„Okay.“ Vince zündete sich seine Zigarette an und gab Felix den Tabak. „Ich sehe, dass du dich auf deinen Charme wohl nicht mehr verlassen kannst! Behalt den Tabak. Das ist meine letzte Fluppe.“
„Wirklich? Du hörst tatsächlich auf?“ Felix nahm ein Blättchen und streute Tabak darauf.
„Ich sag’s dir, ihr habt mich kleingekriegt. Hab keinen Bock mehr darauf, dass ihr mich wegen ein paar Kippen wie einen Aussätzigen behandelt.“
„Wir dich?“ Felix musste sich aufs Drehen konzentrieren. Vince rückte näher und besah sich die Sache aus allernächster Nähe.
„Wird nichts“, urteilte er, „du bist noch nicht im richtigen Rollmodus. Das da ist mehr so die Faltmethode.“
Felix leckte das Papierchen an und drückte die Enden zusammen, dann hielt er das krumme Ding in die Höhe.
„Für den Anfang will ich mal nichts sagen“, raunte Vince. „Aber du weißt schon, dass du Sportler bist?“ Felix zuckte mit der Schulter, nahm die Zigarette, steckte sie sich zwischen die Lippen und ließ sich Feuer geben. Er nahm einen Zug, füllte seine Wangen mit Rauch und stieß ihn gleich wieder aus.
„Lass gut sein“, sagte Vince, „paffen kann jeder.“ Er hob die Hand und verabschiedete sich. „Nicht vergessen, immer schön fröhlich bleiben.“
Arschloch.
10
Mama war nicht zu Hause, ihre Schicht im Pflegeheim ging bis um sieben. Normalerweise hätte Felix jetzt das vorbereitete Essen heiß gemacht, sich eine halbe Stunde vor den Fernseher gehauen und dann den Bus zum Schwimmbad genommen. Heute gab er der Tasche mit seinem Schwimmzeug, die immer noch im Flur stand, nach dem Essen einen Tritt und ließ dann die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, ohne eine Ahnung zu haben, was er jetzt tun würde. Bloß nicht stillsitzen. Er lief durch die ruhigen Vorortstraßen, wo nichts, aber auch gar nichts los war. Alle saßen anscheinend in ihren Bunkern oder waren bei der Arbeit und die klingenden Blumennamen waren ihnen sowas von scheißegal. Sie machten das Leben auch nicht besser. Sollte er Pufu anrufen, um ihn zu fragen, ob er Lust hatte, ein bisschen zu zocken? Mit ihm konnte man sich auch spontan verabreden, sie kannten sich seit der Grundschule. Aber der würde sich nur wundern, dass er Zeit hatte und nicht ins Schwimmbad fuhr. Außerdem war er wahrscheinlich selbst beim Training. Handball spielte er schon ewig.
Felix spürte, wie ihm ein übles Gefühl in den Nacken kroch und von hinten an die Kehle griff. Vielleicht hätte er damals mit Pufu zusammen in den Handballverein eintreten sollen. Dann wäre das alles nicht passiert. Aber als Pufu sich dazu entschloss, ging er doch schon längst zum Schwimmtraining. Das war seine ganze Seligkeit. Und nichts, absolut nichts, hatte darauf hingedeutet, dass das jemals anders sein würde.
Felix erreichte den Park, der hinter dem Wohnviertel begann, und versuchte, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Er dachte an das alte vierstöckige Haus, in dem sie in der Stadt gewohnt hatten, als er noch klein war und eine richtige Familie hatte. Die Zimmer waren riesig, der Flur war genau richtig zum Fußballspielen und vom Balkon im dritten Stockwerk konnte man bis an den Rhein schauen. Seine Erinnerungen waren bruchstückhaft, aber er wusste noch genau, dass die kleinen Griffe an den Schranktüren unter dem Küchenfenster metallene Fische waren, die er immer wieder betrachtet und abgezeichnet hatte. Die Zeichnungen hatten überall in seinem Zimmer an den Wänden gehangen und er hatte sich vorgestellt, dass er mit ihnen zusammen durchs Meer schwimmen würde. Er erinnerte sich auch noch an die vielen Ausflüge, die er mit Mama und Papa unternommen hatte. An den Rhein, in den Stadtwald, in den Zoo oder einfach irgendwohin, wo es schön war und sie etwas Spannendes erleben konnten.
Als er sechs war und in die Schule gekommen war, hatte Papa ihm endlich das Schwimmen beigebracht. Es hatte nur wenige Wochen gedauert, dann konnte er es und hatte das entdeckt, was ihm von da an am allermeisten Spaß auf der Welt machte. Papa stand am Beckenrand und lobte ihn ohne Ende. Er hatte etwas an sich, das es einem leicht machte, sich immer weiter anzustrengen und noch besser zu werden. Felix war süchtig nach Papas strahlendem Gesicht und seinem Lob geworden. Dann war Papa plötzlich weg. Als hätte jemand ein Riesenstück aus Felix’ Lieblingskuchen rausgeschnitten und weggeschleppt.
Er versuchte sich zu erinnern, wann es angefangen hatte, dass die Eltern sich nur noch stritten. Manchmal waren sie richtig laut geworden, besonders abends, wenn er schon im Bett lag. Unter der Bettdecke hatte er sich die Ohren zugehalten und trotzdem ihre Stimmen gehört. Ich werde mir beim Untertauchen nicht mehr mit den Fingern die Nase zuhalten, hatte er ihnen heimlich geschworen, ich werde noch schneller schwimmen! Aber es hatte alles nichts genützt. Papa ging nur noch selten mit ihm ins Schwimmbad, und es wurden keine Pläne mehr für die Sommerferien gemacht. Oma kam und nahm ihn mit in ihr Dorf, wo er die ganzen vielen Ferienwochen verbrachte und sogar glücklich gewesen war. Felix ballte die Fäuste in den Jackentaschen.
11
Wie konnte ich nur so glücklich sein, wenn sich doch gerade meine Familie auflöste? Ich bin so ein absoluter Vollhorst, der schon damals keine Ahnung hatte! Diese Ahnungslosigkeit fühlt sich schrecklich an. Immer noch. Am Ende der Ferien hat Mama mich abgeholt und Papa existierte nicht mehr. Er war einfach weg, ohne Erklärung. Oder hat Mama mir irgendetwas erklärt, das ich aber nicht kapiert und sofort wieder vergessen habe? Musste sie gar nicht, ich wusste doch längst, was los war. Papa war weg, weil er enttäuscht von mir war. Ich war einfach nicht gut genug. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, aus mir einen Superschwimmer zu machen, aber ich hatte mich einfach nicht genug angestrengt. Aber ich würde der Beste werden! Das hatte ich mir damals geschworen. Dann würde Papa vielleicht zurückkommen und alles wäre wie früher. Aber das riesengroße Loch, das plötzlich in meinem Leben war, ist einfach immer dageblieben. Nie wird etwas wie früher.
12
Felix hatte bald aufgehört, seine Mama nach dem Warum zu fragen. Er wollte nicht, dass sie wieder