Zeitmanagement und Selbstorganisation in der Wissenschaft. Markus Riedenauer
und Lebensplanung sind etwas sehr Individuelles und können nicht im Rahmen dieses Buches angeleitet werden. Wir empfehlen Ihnen, die Unterstützung durch ein Coaching in Anspruch zu nehmen.22
Für Ihre Karriereplanung sollten Sie Meilensteine definieren und identifizieren, wo Weggabelungen auftauchen dürften, an denen Entscheidungen zwischen Alternativen fällig werden. Überlegen Sie, wie konkret, wie wahrscheinlich und wie langfristig die Aussicht auf die nächste Phase oder Stufe in Ihrer Laufbahn sein muss, um sich darauf einzulassen. Seien Sie sich des Preises bewusst, welchen Sie über längere Sicht für das weitere Verfolgen Ihrer akademischen Karriereziele bezahlen müssen – in Bezug auf soziale Sicherheit, Einkommen, Versäumen alternativer beruflicher Einstiegsmöglichkeiten, Privat- und Familienleben. Das Prinzip Hoffnung ist an sich gut, aber zu viele schaffen es nicht, ihre Wünsche zu verwirklichen, und vermeiden, sich rechtzeitig Fragen und eventuell unangenehmen Entscheidungen zu stellen. Hilfreiche Fragen dieser Art könnten sein:
Wenn Sie gerade Ihr Studium abschließen und sich eine Promotion überlegen:
Welche zusätzlichen Chancen bietet mir ein Doktortitel? Wie wichtig ist mir die damit verbundene Ehre?
Welchen Stellenwert hat für mich die wissenschaftliche Tätigkeit an sich, welche Faszination übt sie auf mich aus?
Welche anderen Ziele habe ich für die nächsten fünf Jahre?
Welche Alternative im Sinne eines rascheren Berufseinstiegs außerhalb der Hochschulen gibt es jetzt schon, und welche Möglichkeiten eröffnen sich voraussichtlich nach meiner Promotion?
Vor allem, falls Sie aus dem Ausland kommen:
Wo möchte ich – unter Berücksichtigung privater Interessen – nach der gegenwärtigen Phase meines Lebens arbeiten?
Was kann ich jetzt dafür tun, um mir dann und dort Chancen zu eröffnen?
Während eines Promotionsstudiums, an dessen Sinn Sie zweifeln – insbesondere, wenn Sie gleichzeitig anderweitig berufstätig sind:
Wie setzt sich meine Motivation für das Doktorat zusammen? Wie viel Prozent macht die Annahme aus, dass der Doktortitel wichtig für meine [50]beruflichen Chancen sein wird, wie viel Prozent sind persönliches Interesse an der Sache, wie viel die Aussicht auf mehr soziale Reputation, wie viel noch andere Motive?
Welche Alternativen habe ich derzeit?
Worauf verzichte ich zugunsten meiner Promotion (finanziell, sozial, familiär, Lebensqualität)?
Was ist der höchste Preis, den ich zu zahlen bereit bin?
Wenn Sie auf der Grundlage zeitlich befristeter Anstellungen promovieren oder habilitieren:
Wie hoch schätze ich und schätzen Kenner meiner Situation die reale Chance ein, einen Anschlussvertrag zu bekommen? Falls dieser auch befristet wäre, was wäre für mich das akzeptable Minimum?
Bin ich so erfüllt von der wissenschaftlichen Tätigkeit, dass dies über Zweifeln und Ängsten steht?
Wie lässt sich meine soziale Sicherheit verbessern? Wann kümmere ich mich um Perspektiven für meine finanzielle Lage im Alter/Ruhestand?
Wie komme ich mit dem Bewusstsein meiner Unsicherheit oder Abhängigkeit zurecht? Für wie lange möchte ich diesen Zustand annehmen?
Falls Sie erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit Ihrer akademischen (Weiter-)Qualifikation haben, machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht sklavisch an eine frühere Entscheidung gebunden sind. Ein (Promotions-) Studium oder eine Habilitation aufzugeben, kann sehr vernünftig sein, wenn es gleichzeitig die Entscheidung für etwas Besseres ist.
Bekanntlich werden wissenschaftlich Tätige seltener als früher verbeamtet bzw. pragmatisiert und wenn, dann spät (in Deutschland oft erst im Zuge einer Professur, in Österreich gar nicht mehr). Daraus folgt, dass die gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsvertrages wie auch die zukünftigen Möglichkeiten sehr genau und nüchtern zu analysieren sind, eventuell mithilfe einer Rechtsberatung. Leider machen viele die Erfahrung, dass sie mit Versprechungen auf eine fixe oder eine unbefristete Stelle hingehalten werden – sei es absichtlich, sei es unabsichtlich, wenn in Aussicht gestellte Gelder doch nicht eintreffen.23 Oder die Verantwortung für [51]das Einwerben von Drittmitteln wird Ihnen überhaupt selbst übertragen. Eine Nische kann sich langfristig als Falle entpuppen. Was man im Alter von 30 Jahren noch akzeptiert, kann zehn Jahre später als unannehmbar erscheinen (und es natürlich auch sein). Besonders Lehrbeauftragte mit Werkverträgen oder ähnlichen kurzfristigen, unsicheren Bedingungen sowie Habilitierte mit der Verpflichtung zur (unentgeltlichen) Titellehre müssen sich die Frage stellen, wie und vor allem wie lange sie mit der Perspektive des wissenschaftlichen Prekariats zurechtkommen. Sie können vor die Entscheidung gestellt werden, die Wissenschaft zum Hobby zu machen, um aus dem „Existenzlektorat“ herauszukommen. Ihr Zeitmanagement kann sich nicht auf die effiziente Gestaltung der momentanen wissenschaftlichen Aufgaben beschränken, sondern muss bei einer grundsätzlichen Lebensplanung und langfristigen Selbstorganisation ansetzen, die auch Umstiegsmöglichkeiten und B-Varianten beinhaltet. Wenngleich das anstrengend und zeitaufwendig ist, lohnt sich dieser Einsatz meistens.
Wenn Sie sich jetzt Gedanken über zukünftige Szenarien und Entscheidungskriterien machen, diese schriftlich festhalten und auch mit befreundeten Menschen besprechen, entgehen Sie später der Versuchung, aus Alternativlosigkeit oder mangelnder Entscheidungsfreude einfach irgendwie weiterzutreiben. Auch in dem Fall, dass sich dann ganz andere Möglichkeiten eröffnen, haben Sie mit diesen Reflexionen schon eine Grundlage zum Weiterdenken und innere Festigkeit.
Brauche ich gegenwärtig ein zusätzliches Einkommen? Wie viel, und wie wird sich mein Finanzbedarf (für Wohnraumbeschaffung, Familiengründung, Altersvorsorge u.Ä.) voraussichtlich entwickeln?
Wenn ich außerwissenschaftliches Einkommen generieren muss, welche Möglichkeiten habe ich, und wie harmonieren diese mit meinen akademischen Interessen?
Kann und will ich bei sparsamem Lebensstil bis zum Abschluss meiner Promotion oder Habilitation auf zeitraubende oder belastende Nebentätigkeiten verzichten?
Oder sind diese wichtig für das Aufbauen späterer Berufschancen?
Ist mir bewusst, was in der Realität mein Standbein, was mein Spielbein ist?
Unter welchen Bedingungen würde ich umsteigen?
[52]Heutzutage werden internationale Erfahrungen erwartet, wenn Sie in der Wissenschaft Karriere machen wollen. Im eigenen Interesse sollten Sie sich frühzeitig darüber Gedanken machen, wann (und natürlich wo) das in Ihren Lebensplan passt. Gastprofessuren, „visiting scholarships“, Lehre im Ausland sind oft auch in kleineren Etappen oder Blöcken möglich.
Ein mittlerweile auch in der soziologischen Forschung behandeltes Problem ist die Fortpflanzung der wissenschaftlich Tätigen.24 Befristete Verträge mit hoher Arbeitsbelastung und negative Einschätzungen der beruflichen Zukunftsaussichten besonders unter Frauen scheinen ursächlich dafür zu sein, dass die realisierte Kinderzahl (bei beiden Geschlechtern) geringer ist als die Kinderwünsche. Erfahrungsgemäß geht häufig ein Aufschub der familiären Ziele in einen nicht bewusst gewählten Verzicht über. Besonders wenn die Karriere nicht wie erwünscht gelingt, kommt in der zweiten Lebenshälfte ein bitteres Gefühl auf, etwas Wichtiges versäumt zu haben.
Das könnte heißen, dass eine schlechte gesellschaftliche Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlichem Beruf zum Scheitern persönlicher Lebensvisionen führt, wenn man sich nicht selbst aktiv dafür einsetzt, die Vereinbarkeit herzustellen. Der erste Schritt dazu wäre, sich größtmögliche Klarheit über seine persönlichen Ziele zu schaffen, die eigenen Werte zu definieren und bei der Lebensplanung mit einer Visionsentwicklung zu beginnen.
Die bisherigen Bemerkungen bezogen sich vor allem auf die Situation jüngerer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Doch auch wissenschaftlich Tätige über 40 Jahren sollten