Zeitmanagement und Selbstorganisation in der Wissenschaft. Markus Riedenauer
aber auch den Verhaltensstil. Selbstverständlich hängt das alles miteinander zusammen und bedingt sich gegenseitig mehr oder weniger. Vieles davon beeinflusst die persönliche Zeitgestaltung, etwa die Tagesleistungskurve, der Energiehaushalt, der Denkstil, die Reihenfolge der zu verwirklichenden Werte, Traditionen und sozialer Status sowie vor allem der Charakter.
Manche springen frühmorgens voller Energie aus dem Bett, andere sind erst am späten Vormittag ganz einsatzbereit, dafür aber auch spät abends noch wach. Italiener halten, wo möglich, eine lange Mittagspause, während Amerikaner gewohnt sind, das Essen nach einer halben Stunde zu beenden und an den Schreibtisch zurückzukehren. Die einen sind in der Lage, sich leicht zwei Stunden lang auf eine Sache zu konzentrieren, während die anderen öfters zwischen verschiedenen Tätigkeiten wechseln. [36]Manchen helfen große Tabellen und detaillierte Pläne beim Zeitmanagement, andere werden davon in Schrecken versetzt und kleben sich lieber Erinnerungszettel mit kleinen Bildchen oder Symbolen auf den Computer und die Schreibtischplatte oder an die Türe. Die einen haben immer ein offenes Ohr für ihre Mitmenschen, weil sie für sie da sein wollen, während die anderen begrenzte Sprechstunden einführen und ansonsten die Bürotüre schließen und das Telefon abstellen. Die eine analysiert und entscheidet schnell, der andere hält das für schlampig und besteht auf einer gründlichen Diskussion aller relevanten Gesichtspunkte.
Viele Zeitmanagement-Ratgeber und Trainings nehmen auf die Individualität wenig Rücksicht und können es auch schwer, da es objektiv schwierig ist, in einem Buch, dessen Leser unbekannt sind, oder in einem kurzen Seminar allen möglichen Stilen gerecht zu werden und individuell treffsichere Hilfen anzubieten. Sie beschränken sich notgedrungen auf allgemeine Regeln und Standardtipps und überlassen deren Auswahl und Adaptierung ganz der Leserin oder dem Trainingsteilnehmer. Je mehr aber ein Beruf von der Persönlichkeit dessen, der ihn ausübt, geformt wird, je gestaltungsoffener er ist, umso wichtiger ist es, der Individualität Rechnung zu tragen.
Wie kann man diesem Ziel etwas näher kommen? Eine Möglichkeit ist die Typisierung, also eine Ebene zwischen der Individualität im strengen Sinn und dem Allgemeinen, das für alle gelten soll, zu nutzen. Auf dieser Basis können dem Einzelnen Hilfen angeboten werden, sich selbst einzuschätzen und konkreter weiterzuarbeiten an der Anpassung der Zeitmanagement-Instrumente und Strategien an sein oder ihr persönliches Verhalten.
Nicht nur der Beruf an sich, sondern auch die Selbstorganisation, also nicht nur das „Was“, sondern auch das „Wie“ muss, so gut es geht, zur individuellen Persönlichkeit passen. Wo das auf Dauer nicht zusammenstimmt, wird es sehr anstrengend, hohe Leistungen zu erbringen. Umgekehrt winkt Erfolg dort, wo jemand sein Umfeld und seine Routinen so organisiert hat, dass die persönlichen Stärken genutzt werden und die Schwächen nicht zu sehr bremsen. Noch besser ist es, von der individuellen Selbsterkenntnis bis zu einer Selbstentwicklung zu kommen, sodass die eigene Person in ihrem ganzen Potenzial ausgeschöpft wird, um den verschiedenen situativen Anforderungen besser zu entsprechen. Es geht also um eine wechselseitige Anpassung von Umfeld und Verhalten, die wir alle intuitiv ständig leisten, die aber bewusst verbessert werden kann, um Reibungsverluste, die bis zu Blockaden gehen können, zu vermeiden. Wer eine hohe Fähigkeit zu einer solchen Übereinstimmung erreicht hat, bemerkt das durch schnelleres und effektiveres Arbeiten, höhere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit und im [37]Normalfall mehr Erfolg. Von solchen Menschen wird oft gesagt, sie seien „ganz sie selbst“ bei dem, was sie tun – ob es nun die stille und einsame Arbeit am Schreibtisch ist oder die begeisternde Vorlesung, effektives Führungshandeln oder wertvolle kollegiale Mitarbeit im Forschungsteam.
Warum geht eine Dozentin gerne in mündliche Prüfungen und genießt es, die Studierenden bei der Gelegenheit ein Stück weit persönlich kennenzulernen, hat auch nichts dagegen, dabei die Zeit zu überziehen, während ein anderer lieber Multiple-Choice-Tests entwickelt und einsetzt, weil sie eine standardisierte und rasche Benotung ermöglichen?15 Warum ergreift ein Institutsvorstand sofort eine sich bietende Gelegenheit, ein großes drittmittelfinanziertes Forschungsprojekt zu beantragen, und setzt die dafür nötigen Schritte auch gegen Widerstände durch, während eine Kollegin sehr lange überlegt und am Ende mehr Bedenken und Gegenargumente ausformuliert hat als Konzepte? Warum scheint eine Professorin dankbar zu sein für persönliche Gespräche, nach denen sie sich rasch und inspiriert wieder ihrer Arbeit widmet, während ein anderer sich durch jeden Besucher aus der Konzentration herausgerissen und gestört fühlt?
Diese Beispiele zeigen, wie der individuelle Verhaltensstil die vielen täglichen zeitrelevanten Entscheidungen beeinflusst. Sie wollen nicht nahelegen, dass es in den diversen Situationen nur ein „richtiges“ Verhalten gäbe, wohl aber, dass es wichtig ist, seine spontanen Verhaltenspräferenzen zu kennen, Ursachen für Ineffektivität zu identifizieren und die Bedingungen, unter denen man gut arbeiten kann, auch gegenüber anderen zu sichern. Auch die angemessene Planung hängt davon ab.
Wie wichtig ist es mir, für das Entwerfen eines Vortrags oder das Verfassen einer Arbeit große Zeitblöcke zu reservieren, in denen ich Unterbrechungen ausschalte?
Wie wichtig ist es für mich, durch Diskussionen z.B. auf Tagungen Inspirationen zu erhalten?
Wie viel ruhige Abgeschlossenheit brauche ich, wie oft sollte ich meine Projekte in den mündlichen Diskurs einbringen?
Alle angeschnittenen Fragen erlauben eine interessante psychologische Debatte. Für eine solche ist hier nicht der Ort und die Zeit – unser Ziel ist, [38]Ihnen ein heuristisches Instrument an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe Sie Ihr persönliches Verhalten, dessen Wirkkraft und Dysfunktionalitäten Sie aus Erfahrung einigermaßen kennen, systematisch besser verstehen und steuern können. Wir verlassen uns dabei auf ein wissenschaftlich gut validiertes, praktisch hervorragend ausgearbeitetes und millionenfach bewährtes Persönlichkeitsmodell.
Ein Modell zur Beschreibung und Entwicklung des Verhaltens
Das aufgrund der theoretischen Arbeit von William Moulten Marsten von John G. Geier weiterentwickelte Modell16 beschreibt einen wesentlichen Faktor, der menschliches Verhalten steuert, welchen man umgangssprachlich und ungenau mit Charakter oder Persönlichkeit bezeichnet. Selbstverständlich spielen auch kognitive Überzeugungen und Werte eine wichtige Rolle bei Entscheidungen, und hinter den individuellen Verhaltensdispositionen stehen lebensgeschichtliche Erfahrungen seit der Geburt. Aber was das Modell erfasst, sind derzeit beobachtbare Verhaltenstendenzen, und das bedeutet ein Vierfaches:
Erstens geht es um Verhalten an der Schnittstelle von Person und Umwelt, das im Prinzip von anderen auch wahrgenommen werden kann – nichts tief im „Inneren“ oder der Vergangenheit Verborgenes. Zweitens geht es um spontane Tendenzen, die natürlich nicht automatisch umgesetzt werden, weil im Normalfall die Möglichkeit besteht, sich zu einer anderen Reaktion zu entschließen. In Stresssituationen jedoch steigt die Wahrscheinlichkeit, den spontanen Verhaltenspräferenzen gemäß zu reagieren. Drittens sind diese das Individuum charakterisierenden Tendenzen oder Verhaltensdispositionen in gewissen Grenzen veränderbar. Sie haben sich in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt, angefangen bei den Eltern bis hin zu einem spezifischen Wissenschaftsstil, und können und müssen auch in Zukunft an neue Situationen und andere Menschen angepasst werden. Viertens haben wir alle durch diese meist intuitiven Anpassungsleistungen an diverse Ansprüche ein Repertoire von Verhaltensstilen entwickelt, die für verschiedene Situationen und Personen jeweils angemessener sind: Der Institutsvorstand wird als Chef etwas anders auftreten als in seiner Rolle als Vater eines Kleinkindes, oder die Assistentin wird in einer Kommissionssitzung etwas andere Verhaltenstendenzen[39] zeigen, als wenn ein Student in der mündlichen Prüfung verzweifelt zu weinen beginnt.
Daraus folgt, dass Sie bei Ihrer Selbsteinschätzung an eine typische Situation denken sollen, für welche Sie Ihre Verhaltenspräferenzen besser verstehen wollen.
Würde ein Sportsfreund mein typisches Verhalten anders beschreiben als eine Hörerin meiner Vorlesung?
In welchen häufigen beruflichen Situationen fühle ich mich sicher, spüre ich, dass ich die Anforderungen leicht erfüllen kann? In welchen Situationen bin ich unsicher und ahne, dass jetzt ein anderes Verhalten besser wäre?
Zwei Faktoren bestimmen