Kreatives Schreiben. Oliver Ruf
der Suche nach praktikablen Modellen zur Autorenausbildung bietet sich auf der einen Seite wiederum das anglo-amerikanische Modell des poet-in-residence in FormForm von Gastdozenturen für PoetikPoetik an,266 wie es an vielen deutschen Universitäten mittlerweile umgesetzt wird; auf der anderen Seite bleibt das Kreative Schreiben aktuell in Deutschland durch eine Erscheinungsweise definiert, die auf die angeleitete und reflektierende Vermittlung von Formen und Techniken literarischer ExpressionTechniken literarischer Expression zurückgreift.267Ortheil, Hanns-Josef ›Erfunden‹ wurde dieses Phänomen, wie ausgeführt worden ist, um [79]1880 im Zuge einer neuen Praxisorientierung der neueren Philologien bzw. der New HumanitiesNew HumanitiesNew HumanitiesNew Humanities innerhalb der US-amerikanischen Hochschulen und deren Curricula268New Humanities und als neuer akademische Lehr- und Lernbereich beginnt die Etablierung wissenschaftlich praktizierten Kreativen Schreibens in den Praxis-Laboratorien des auslaufenden 19. Jahrhunderts.269
Heute erfolgt die ›deutsche‹ Betrachtung des Kreativen Schreibens in ähnlicher Weise aus der Tendenz, LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als KulturwissenschaftKulturwissenschaft270LiteraturwissenschaftKulturwissenschaft aufzufassen und sich diesem als »komplexer KulturtechnikKulturtechnik«»Komplexe Kulturtechnik« und »kultureller SchreibraumSchreibraum« einschließlich des entsprechenden »kulturellen Schreibraum[s]« zuzuwenden, in dem das materielle/mediale/performative Wie des Schreibens, sein intentionales Warum, sein formales/inhaltliches Was und sein Wozu (Zielorientierung) in »einem bestimmten historischen Moment aufgenommen und zugleich variiert«271Porombka, Stephan werden.272Spinner, Kaspar H.
Zwar hat die kulturwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften die LiteraturwissenschaftenLiteraturwissenschaft umorientiert;273 das Kreative Schreiben steckt aber trotz der skizzierten Erfolge noch immer regelrecht in den Kinderschuhen. Dennoch existieren zwei Vollzeit-Studiengänge, die für die universitäre Schriftstellerausbildung vorgesehen sind: an der Universität HildesheimHildesheim, Universität der Bachelorstudiengang KulturjournalismusKulturjournalismus und Kreatives Schreiben274Ortheil, Hanns-JosefKulturjournalismusPorombka, Stephan sowie der Masterstudiengang Literarisches Schreiben und am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig der Bachelor- und [80]Masterstudiengang Literarisches Schreiben.275 In seiner kulturwissenschaftlichen Verortung findet das Hildesheimer enge Verzahnung in einer theoretisch ambitioniert und praktisch berufsorientiert vermittelten sowie auch medienwissenschaftlich geleiteten SchreibwissenschaftSchreibwissenschaftMedienwissenschaftlich geleitete Schreibwissenschaft;276 in Leipzig forciert die institutionelle Lehre starke poetologische und literaturtheoretische Inhalte und erhält nicht zuletzt durch die fortlaufende Integration wechselnder literarischer Gastdozenten sowie durch eine Vielzahl an Werkstattmodulen konzentrierten AnwendungscharakterAnwendungscharakter. Die Installierung des Kreativen Schreibens in den deutschen Studienbetrieb hat also durchaus begonnen. Es bleibt allerdings die Aufgabe, zukünftiger Studiengangsgestalter, aus diesem Beginn eine ausdifferenzierte und vielseitige Curriculumsbildung zu machen, die jedem Schreib-Interesse gerecht wird: denjenigen, die beruflich-professionell schreiben wollen, denjenigen, die ›Schreiben‹ in der Schule richtig thematisieren möchten und denjenigen, deren Anliegen es ist, ihr eigenes Schreiben in welcher Hinsicht auch immer grundlegend zu verbessern.
[81]3. Theorie(n) des Kreativen Schreibens
Kreatives Schreiben verlangt immer auch die »intensive Arbeit an Kontexten«Die »intensive Arbeit an Kontexten«: »[E]s geht um das Lesen vor dem Schreiben, um das Lesen während des Schreibens und um das Lesen nach dem Schreiben, das ja eigentlich nichts anderes als das Lesen vor dem Wieder-Weiterschreiben ist.«277Porombka, Stephan Was aber soll für einen letztlich produktionsästhetischen Zweck gelesen werden?278Produktionsästhetik Bei MearnsMearns, Hughes sind es zumindest nicht die so genannten Klassiker, die in seinen Creative Writing Classes die Lektüren bedingen, nicht »the reiterated dead giants of the past«,279Mearns, Hughes sondern zeitgenössische Autorinnen und AutorenAutor,280 die als Vorbilder dienen können und deren Werke vor der Folie ihres Nutzwertes, literarisch Schreiben zu lehren, selektiert werden. Das erfordert naturgemäß, den ›üblichen‹ literarischen KanonKanon permanent zu erweitern.281Myers, D.G. Gerade deswegen steht heute Kanonisierung vor allem in englischsprachigen Creative Writing-Programmen unablässig auf dem Prüfstand. Sandra Lea Meek etwa führt mit Verweis auf Frank KermodesKermode, Frank These, Kanonbildung sei eine strategische Konstruktion gesellschaftlicher GruppierungenEine strategische Konstruktion gesellschaftlicher Gruppierungen, die dadurch ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen,282Kermode, FrankInterpretation folgendes aus:
[…] the »society« of the creative writing program is usually controlled by a small group of professors, who may believe that they can best serve their own interests – self-serving or altruistic – by constructing a canon that fits their own aesthetic preferences. While writers may have an interest in the propagation of their own aesthetics, there is nothing inherently calculated and self-serving in teaching what one sees as good writing. The problem occurs when the poet takes on a too narrowly evangelical role. In the workshop, such zeal raises a complicated issue; how can the proponent of a particular [82]belief system – aesthetic or religious – judge if a student-writer, a potential aesthetic convert, is doing well in his own belief system when that »leader« believes her won to bet he true, the chosen one? This kind of missionary attitude, common enough, can be limiting and even debilitating for the student, the potential artist in whom the writing program is supposed to encourage individual artistic growth.283
Fasst man nun auch ins Auge, dass in Deutschland (wie sich gezeigt hat) Creative Writing nach US-amerikanischem Muster noch regelrecht in den Kinderschuhen steckt und außerdem, dass auf dieses (wie sich ebenfalls bereits erwiesen hat) aufgrund von vor allem genieästhetischer Überzeugungen284Ortheil, Hanns-JosefKulturjournalismusHildesheim, Universität und Vorbehalten gegenüber diesem als selbst-therapeutisches Instrumentarium285PoesieWerder, Lutz von seit jeher äußerst zurück haltend reagiert wird, stellt sich die Frage nach der Bedeutung eines theoretischen Gehalts des Creative Writing?Der theoretische Gehalt des Creative Writing?
3.1. Die Perspektiven der Theorie
Hanns-Josef OrtheilOrtheil, Hanns-Josef hat erläutert, aus welchen FormenForm speziell der PoetikPoetik sich dieses herleiten ließe und was es in der Gegenwart mit diesen Formen zu tun habe; Ortheil greift dazu auf »einige Ahnherren der Poetik wie AristotelesAristoteles oder HorazHoraz« zurück, die er so versteht, »als wären es Abhandlungen, die auch das ›Kreative Schreiben‹ betreffen«:
Weil die Literatur über das »Kreative Schreiben« weitgehend ohne ein solches begriffliches oder historisches Denken auskommt, bleibt sie oft blass und ist kaum fundiert. Vielleicht ist das auch der Grund, warum »Kreatives Schreiben« die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft bisher noch nicht interessiert hat. […] Es ist also an der Zeit, das »Kreative Schreiben« ernst zu nehmen und ihm eine Geschichte zu geben. Deshalb gehe ich hier bis zur Antike zurück, um nach seiner Herkunft und seinen Ursprüngen zu fragen. Indem ich das tue, [83]verorte ich das »Kreative Schreiben« als eine Spiel- und vor allem LesartLesart von PoetikPoetik.286Ortheil, Hanns-JosefAristoteles
Hanns-Josef OrtheilOrtheil, Hanns-Josef
wurde am 5. November 1951 als fünfter Sohn von Maria Katharina und Josef Ortheil in Köln geboren. Traumatische Erlebnisse ließen seine Mutter verstummen, so dass er im Alter von drei Jahren selbst für gewisse Zeit mit dem Sprechen aufhörte. Seit frühester Kindheit spielt Ortheil Klavier, machte Abitur in Mainz und studierte schließlich Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Vergleichende LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. 1976 wurde er mit einer Arbeit zur Theorie des Romans im Zeitalter der Französischen RevolutionRevolution promoviert. Drei Jahre später erfolgte sein literarisches Debüt. Seit 1990 lehrt er – noch immer als einziger deutscher Universitätsprofessor – Kreatives Schreiben an der Universität HildesheimHildesheim,