Kreatives Schreiben. Oliver Ruf
2.2.1. Composing – Creating –EnablingEnabling
Hin und her gerissen zwischen zwei extremen und noch immer vorherrschenden Überzeugungen, die auf der einen Seite besagen, literarische Fähigkeiten könnten nicht weitergegeben werden, und auf der anderen Seite verkünden, jeder könne schreiben,214 lässt sich das Schreiblehrkonzept in Großbritannien in einem Schlagwort [66]zusammenfassen: Es lautet ›befähigen‹ (enabling)›Befähigen‹ (enabling), was bedeutet, dass die Schreibstudierenden zum Schreiben angeleitet und ermutigt werden sollen; »ihre Texte werden diskutiert, kritisiert und lektoriert.«215 Zur Erläuterung dieser Entwicklung zitiert GlindemannGlindemann, Barbara u.a. folgende Positionen:
One cannot teach a person to write but one can enable their writing and I think you do that by creating the right circumstances, a supportive atmosphere with time to write and you have, above all, to encourage. […]
The course is about enabling people to push their work out, to cut the cord. […]216
Was genau unter diesem ›Befähigen‹ zu verstehen ist, wird einsichtiger, wenn man sich die didaktische Situation vergegenwärtigt, die bis heute Creative Writing-Kurse (über alle Landes- und Kulturgrenzen hinweg) prägen: Man lernt nicht allein, indem ein Lehrender Wissen an einen Lernenden weitergibt, sondern indem Lehrende und Lernende sowie die Lernenden untereinander voneinander lernen. Dadurch entsteht eine kooperative wie produktive ArbeitsgemeinschaftEine kooperativ-produktive Arbeitsgemeinschaft, in der eigene und fremde Texte vorgestellt, besprochen, analysiert, ggf. auch interpretiert werden – dies allerdings nicht primär im Hinblick auf eine bestimmte LesartLesart des jeweiligen Textes. Vielmehr steht der Austausch über die individuellen Schreibbedingungen und -strategien sowie über deren allgemeinen Rahmen (das literarische Um-Feld) im Mittelpunkt, um die Förderung individueller Fähigkeiten und/oder Begabungen zu intensivieren.217
Ein solches Lehr- und Lernprogramm vollzieht sich in Großbritannien neben der curricularen Lehre mittels Einsatz von Gastdozenten aus dem Literatur- und bzw. allgemeinen Schreib-Betrieb; konzentriert wird sich in diesem »Course Writing«218 vor allem auf »technischen Fertigkeiten«.219Glindemann, Barbara Damit ist das britische Schreibstudium weit davon entfernt, zu vermitteln, jeder könne SchriftstellerSchriftsteller werden (oder dies sogar zu garantieren), eine Ansicht, die [67]hier auch gar nicht diskutiert wird.220Glindemann, BarbaraForm Vielmehr setzen die dortigen Schreiblehrer auf die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer LiteraturAuseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur, damit die Studierenden ihre eigenen Fähigkeiten in Konfrontation mit einem vertiefenden, mithin insbesondere kritischen literarischen Verständnis im Sinne eines »creative criticism« verbessern:
Jede Schreibarbeit geht notwendig aus dem Zusammenspiel kritischer und kreativer Fakultäten hervor, die Schreibstimme ist daher rational-akademisch und persönlich zugleich – und dies gilt für alle Texte. In akademischen EssaysEssay ist die persönliche Meinung und Bewertung durchaus erwünscht und angebracht. Auch beim literarischen Schreiben geht es nicht um das reine Vermitteln abstrakter Techniken und Methoden, die zur Teilnahme an einem bestehenden Diskurs befähigen. Statt dessen wird im praktischen Studium von zeitgenössischen Beispieltexten die abstrakte Technik mit konkreten Inhalten gefüllt, um sie fühlbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Kritisches Lesen und Kreatives Schreiben sind im Schreibstudium komplementär zu verstehen […].221Glindemann, Barbara
Die Überzeugung, dass die Kenntnis von literarischen Genres, rhetorischen FigurenFigur, narratologischen Grundlagen und poetischen Möglichkeiten zur Ausprägung eines eigenen »Handwerksstil«»Handwerksstil«222 führt, geht davon aus, dass literarische respektive lyrische, erzählerische oder dramatische Techniken am Besten durch das Studium literarischer respektive lyrischer, erzählerischer oder dramatischer Beispiele erlernt werden können. Dieser Lernprozeß führe in Großbritannien zur Entwicklung einer persönlichen PoetikPoetik, die das Ziel dieses Creative Writing-Studiums ausmache:
Es ist kein rein kreativer Lernprozeß, sondern eine dialektische Schwingbewegung des kritischen Umgehens mit Vorgaben und deren kreativer Umsetzung: Möglichkeiten dazu bieten z.B. Analyse, Kombination, Spiegelung, Umkehrung, Verdoppelung, Fragmentarisierung, Übertreibung, Untertreibung, etc. Das literarische Schreiben gilt in Großbritannien nicht als »Sprache«, die zu erlernen wäre wie etwa die Fachsprache der Juristen. Unter dieser Voraussetzung entstünden lediglich standardisierte, formelhafte Texte. Britisches Creative Writing bedeutet immer kritischen, reflektierten [68]Umgang mit vorhandenen Regeln und Techniken in einem praktischen und aktiven Prozeß des Zu-Eigen-Machens. Handwerkliche Techniken sind vor allem »Inspirationshilfe«»Inspirationshilfe«, sie stellen Anknüpfungspunkte bereit und intensivieren die Lust am Schreiben. Derartige Anknüpfungspunkte erlösen den Schreibenden von dem hohen Anspruch, alles selbst neu erfinden zu müssen und befähigen ihn, sich beruhigt hinzusetzen und vom Bestehenden auszugehen.223
Neben dem in dieser Beschreibung zum Ausdruck kommenden Befund, Kreatives Schreiben als eine Kombination aus »Selbst-Lesen, Andere-Lesen-Sehen, Selbst-Schreiben und Andere-Schreiben-Sehen, Besuchen von Lesungen, Diskussionen über das Schreiben und Diskussionen über Literatur«224Glindemann, Barbara zu verstehen, entwickeln sich in Großbritannien darauf rekurrierende berufspraktische Studieninhalte, die hervorheben, wie sehr ein angehender AutorAutor auch als eine Art Geschäftsmann und damit als Selbstvermarkter handeln muss.225Lodge, David
Damit werden jene Aspekte konkreter BerufsperspektivenBerufsperspektiveAspekte konkreter BerufsperspektivenBerufsperspektive angesprochen, die zum ›Leben‹ eines SchriftstellersSchriftsteller seit der Ausdifferenzierung eines literarischen Marktes immer schon dazu gehören226BuchBuchhandel und gerade auch hinsichtlich einer Konkurrenz um Aufmerksamkeit bis heute nicht an Bedeutung eingebüßt haben:227 Kontakt und KooperationKooperation mit literarischen Verlagen und Medien, Verhandlungsgeschick für Vorschüsse, Honorare und Verträge, Organisation und GestaltungGestaltung von Lesungen der eigenen Werke und anderweitigen öffentlichen Auftritten.228Glindemann, Barbara Für die akademische Implementierung des Kreativen Schreibens in Großbritannien wird darauf dadurch reagiert, dass an den jeweiligen Hochschulen literarische Veranstaltungen und Wettbewerbe entstehen, dass studentische Literaturzeitschriften gegründet und die Zusammenarbeit [69]mit literarischen bzw. allgemein kulturellen Institutionen bereits im Studium gesucht wird.
2.2.2. Kritische Positionen
GlindemannGlindemann, Barbara weist in ihrer historischen Darstellung des Kreativen Schreibens zu Recht darauf hin, dass dessen skizzierte Entwicklung in Großbritannien zu einer wenn nicht vollends kommerzialisierten, dann doch zumindest zu einer auf kommerziellen Erfolg abzielenden universitären Ausprägung zuläuft. Damit sind Konflikte mit den bestehenden PhilologienKonflikte mit den bestehenden Philologien vorprogrammiert, da deren Erforschung literarischer Traditionen sich lange Zeit auf kanonische literarische Werke konzentriert hat. Nur solche Texte, die Eingang in einen literaturwissenschaftlich begründeten KanonKanon gefunden haben, werden als relevant und d.h. als forschungswürdig akzeptiert.229
Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass nicht nur ursprünglich in Deutschland, sondern vor allem auch in Großbritannien kanonisierte ›Groß‹-AutorenAutor wie ShakespeareShakespeare, William oder Jane AustenAusten, Jane die Lehrpläne dominieren und wiederum auch nur dieser literarische Höhenkamm akademische Anerkennung findet. Das Kreative Schreiben mit seiner Infragestellung eines eigentlichen KanonsKanon und seiner Stärkung gegenwärtiger Literatur läuft diesem Wissenschaftsdiskurs naturgemäß entgegen. Dessen Ablehnung seitens der britischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaftAblehnung seitens der britischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft fußt zugleich darauf, dass die Kompetenz der britischen Schreibdozenten angezweifelt wird, da sie sich, so die Sicht ihrer Kritiker, »Shakespeare oder Jane Austen ebenbürtig zu halten« scheinen, »sonst würden sie nicht schreiben«, dabei seien »sie ganz offensichtlich (bisher) völlig unbedeutend«; wenn ein Literaturprofessor »wahrhaftig« zum Schreiben berufen sei, was mache er dann »immer noch an der Universität«?230
Der Grundkonflikt, der sich hinter derartigen Vorbehalten und Vorwürfen gegenüber dem hochschulisch institutionalisierten [70]Kreativen Schreiben