Kreatives Schreiben. Oliver Ruf

Kreatives Schreiben - Oliver Ruf


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hier dasselbe Lehrgebiet wie die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft bzw. der Literary CriticismLiterary Criticism beanspruchen und dabei aber über deren Inhalte in praktischer Hinsicht hinausgehen, sich als unabhängig von diesen erklären, entsteht zwangsläufig eine konfliktgeladene Situation. Wie kann sich ein Student des Kreativen Schreibens auf eine literaturgeschichtlich verbürgte literarische Tradition beziehen und zugleich mit dieser brechen, sie in Frage stellen und sich auf sich selbst fixieren? Die Antwort vieler Creative Writing-Lehrer lautet, es handele sich lediglich um einen Perspektivenwechsel; betrachtet werde die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte mit den Augen der Literaturproduzenten, wobei jeder Schreibende der Literaturtradition notwendigerweise kritisch gegenüberstehen müsse, um seine eigene Position als Literaturschaffender klar zu definieren.231Glindemann, Barbara

      Daneben stellt es auch in Großbritannien ein Problem innerhalb des akademischen Lehrsystems dar, dass mit dem Kreativen Schreiben und dessen den SchreibprozessSchreibprozess entauratisierenden Strukturen gleichsam das Allerheiligste der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaftDas Allerheiligste der Literaturwissenschaft (das Numinose der Literatur) unwesentlich wird. Gefragt wird gegen das Kreative Schreiben nach der Authentizität des Geschriebenen:

      Woher genau nimmt der literarisch kreativ schreibende Mensch seinen StoffStoff und ist dieser aus dem Leben gegriffen oder frei erfunden? Diese Frage wird immer wieder an die Lehrenden und Studierenden des Creative Writing gerichtet, genau wie sie auf jeder Autorenlesung unvermeidlich die Diskussion einleitet. Wie hat in der Literatur überhaupt das Verhältnis von Realität und Fiktion auszusehen? Inwieweit befindet die zeitgenössische Gesellschaft das Erfundene moralisch fragwürdig oder zumindest verdächtig? Und inwieweit gilt das Reale als zu persönlich, um archetypische Bedeutungen zu transportieren? Ein Text, in dem Objektivität und überprüfbare Fakten überwiegen, gilt als journalistisch, während ein fiktiver Text von subjektiv-imaginativer Färbung als literarisch gilt. Dennoch gibt es fließende Übergänge zwischen diesen Bereichen.232Glindemann, Barbara

      [71]Zu den diskursiven Verfahren, die einen AutorAutor hervorbringen, gehört auch die Erwartung, dass dieser etwas Authentisches, Ehrliches, Glaubhaftes hervorbringt – eine Tendenz, mit der GlindemannGlindemann, Barbara die immer weiter zunehmende Popularität narrativer »Non-fiction«Popularität narrativer »Non-fiction«,233Glindemann, Barbara d.h. von Autobiographien und Memoiren, sowie die abnehmende Nachfrage nach rein fiktiver Erzählliteratur begründet, da diese erfinde bzw. lüge.234 Ob dies allerdings tatsächlich ein Vorwurf ist, der gegenüber dem Kreativen Schreiben geäußert werden kann (oder eher ein Trend, der gesellschaftliche Umorientierungen aus rezeptionsorientierter Sicht widerspiegelt) bleibt zu hinterfragen. Letztendlich handelt es sich bei dem »Schreibstudium nach britischem Modell« in jedem Fall um eine wichtige Weiterentwicklung gegenüber seinen US-amerikanischen Ursprüngen: Indem hier nicht die Erziehung »zur Unabhängigkeit von der Literaturtradition, sondern zum selbstbestimmten Umgang mit literarischen Techniken und Genres« im Mittelpunkt steht,235 können handwerkliche und literaturwissenschaftliche Herangehens- bzw. Umgangsweisen mit Literatur und literarischem Schreiben stärker miteinander verbunden werden. Sie bereiten das vor, was den Erfolg des Kreativen Schreibens in Deutschland avant la lettreKreatives Schreiben avant la lettre vorbereitet.

      2.3. Kreatives Schreiben in Deutschland

      Mag es auf den ersten Blick scheinen, als seien Kreatives Schreiben, SchreibvermittlungSchreibvermittlung und deren Produktionsdiskurse erst nach Überwindung großer Hemmnisse nach Deutschland gelangt – zu verweisen wäre dazu etwa auf die Darstellungen Mattenklotts236 und LudwigsLudwig, Otto237Ludwig, Otto –, so lässt sich für den Verlauf des 20. Jahrhunderts gleichwohl eine Engführung von ästhetischen Strömungen, literarischer [72]Praxis und pädagogischen Bestrebungen, Schreiben (kultur-)technisch zu lehren, für den deutschsprachigen Sprachraum feststellen: »Vor dem Hintergrund von DadaDada und SurrealismusDadaDada und Surrealismus entstanden experimentelle und z.T. an der Psychotherapie orientierte Schreibtechniken, u.a. Sprachcollagen, écriture automatique und Traumtexte.«238Böttcher, Ingrid

      Die Geschichte des Kreatives Schreiben in Deutschland wird, verhindert durch die radikal-diktatorische Kulturpolitik des Dritten Reichs,239DadaSchreibverfahren mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jäh unterbrochen und erst nach 1945 wieder aufgegriffen – allerdings vornehmlich im Kontext einer Neuorientierung des traditionellen AufsatzunterrichtsAufsatzunterricht in der Schule: Hatte im preußischen Obrigkeitsstaat die schulische Behandlung entsprechend so genannter ›preußischer Tugenden‹ die im 19. Jahrhundert aufkommende Abhandlung bzw. Erörterung abgelöst und war von den Nationalsozialisten der Besinnungsaufsatz als »ausdrückliches Mittel der (faschistischen Charakterbildung instrumentalisiert« worden, konzentriert sich der SchreibunterrichtSchreibunterricht in Deutschland zunächst auf die Aufwertung des so genannten »sprachschaffenden bzw. –gestaltenden Aufsatz[es]«.240Becker-Mrotzek, MichaelBöttcher, IngridSchreibkompetenzIdeeForm Jedoch wird man sich in der schulischen Wirklichkeit schließlich über die Unzulänglichkeiten dieser Konzepte [73]bewusst, in deren Konsequenz Gegenbewegungen entstehen, die unter den Bezeichnungen ›freier Aufsatz‹ (in der Volksschule), ›prozessorientierte SchreibdidaktikSchreibdidaktik‹›Freier Aufsatz‹ und ›prozessorientierte Schreibdidaktik‹ (in der Hochschule) und – letztendlich – Kreatives Schreiben (in Schule, Hochschule und Gesellschaft) bekannt geworden sind.241

      2.3.1. Aufsatzlehre und kommunikative Wende

      Die Forschung betont in diesem Zusammenhang in der Regel die kommunikative Wende der SprachdidaktikSprachdidaktikDie kommunikative Wende der Sprachdidaktik in den 1970er Jahren, die – parallel zur Entwicklung in Großbritannien – eine erste Etablierung kreativen Schreibens in Deutschland initiiert:242Glindemann, Barbara

      In einem zugegebenermaßen kühnen Bogen könnte man ›Praxis‹ dem auf den Erwerb einer ›kommunikativen Kompetenz‹ ausgerichteten Deutschunterricht der 70er und 80er Jahre zuordnen: Ob im ›Umgang mit Texten‹ oder bei der Förderung mündlicher Kommunikation – im Vordergrund stand und steht das Lernziel, Schülern ›Kommunikation im Vollzug‹ erfahrbar zu machen. So wichtig dieses Lernziel ist, so ergänzungsbedürftig ist es durch einen ›herstellungsorientierten‹, einen ›poietischen‹ Ansatz: Ziel dieses Ansatzes ist es, Schüler eigene Texte herstellen und damit schriftliches Formulieren als wichtigste FormForm angewandter Sprachreflexion einüben zu lassen. Nichts kann die Auseinandersetzung mit der eigenen, aktiv betriebenen TextproduktionTextproduktion ersetzen. Denn sie erfordert und fördert zentrale allgemeine Fähigkeiten: Planen einer komplexen HandlungHandlung, Antizipationsfähigkeit bezüglich der Wirkungsintention, selektive Bereitstellung und Strukturierung von Wissen […], Kritikfähigkeit bei der Revision des Geschriebenen und schließlich Identitätsbildung qua »Selbstbetrachtung des Schreibers in seinem Produkt« […]. In der Ausbildung dieser Fähigkeiten liegt der eigentliche Sinn des Schreibens.243

      Im Verlauf der 1970er Jahre entsteht in Deutschland mithin ein neuer AufsatzunterrichtAufsatzunterrichtEin neuer Aufsatzunterricht unter kommunikativen Vorzeichen; das Konzept dieser Aufsatzdidaktik akzentuiert die »soziale Funktion der schriftlichen TextproduktionTextproduktion.«244Glindemann, Barbara Kreatives Schreiben hat hier (noch) nichts mit einer universitär geleiteten Ausbildung professionell [74]Schreibender gemeinsam; vielmehr geht es, wie 100 Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten, um die Schulung allgemeiner Schreibfertigkeiten, die jedoch von einer solitären, ein Gegenüber oder eine Gruppe von Lesenden ignorierenden SchreibtätigkeitSchreibtätigkeit streng abgegrenzt wird.

      Da es sich bei einem schulischen SchreibseminarSchreibseminar stets um eine geschlossene, überschaubare KommunikationssituationKommunikationssituation, eine »Gruppenkonstellation des literarischen Schreibens«»Gruppenkonstellation des literarischen Schreibens« handelt, lassen sich bei diesem leicht weitere Anschlüsse an seine US-amerikanischen Vorläufer finden. Die Aufsatzlehre, die kreative Schreibaufträge aufgreift und aufgibt, findet im Rahmen jener literarischen Geselligkeit statt, die bereits um 1880 die ›Erfindung‹ des Kreatives Schreibens als akademische Disziplin in den USA hervorgebracht hat. Eine derartige Situation gilt als Basis aller historischen FormenForm


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