Kreativitätstechniken. Egon Freitag
beobachtet, ausgewertet und dargestellt werden, „wie die Natur entsprechende Problemlösungen als evolutionäre Entwicklungen hervorgebracht hat“ (Lenk, 2006, S. 264).
Von der Evolution ›erfundene‹ Lösungen haben sich zuverlässig bewährt. Sie sind nachhaltig und belastbar. (vgl. Brunner, 2008, S. 118) Diese Technik unterstützt die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperationsfähigkeit.
Nachteile:
Diese Kreativitätstechnik erfordert hohe Anforderungen an die Beteiligten und an den Moderator und ist vor allem für Fachexperten geeignet, denn auf der Suche nach möglichen Vorbildern in der Natur und deren Übertragung auf technische, medizinische oder organisatorische Anwendungsmöglichkeiten sind naturwissenschaftliche Fachkenntnisse erforderlich. Die gefundenen Lösungsvorschläge müssen sorgfältig geprüft und ausgewertet werden. Auch Achtsamkeit und sensible Wahrnehmung sind dazu erforderlich. (vgl. Luther, 2013, S. 227 f.) Das Wissen über die Vorgänge der Natur ist sehr zeitaufwendig. Oft sind dazu mehrere Zusammenkünfte des Teams erforderlich, um geeignete Analogien in der Natur zu finden und diese auf die Aufgabenstellung zu übertragen.
Einsatzmöglichkeiten:
Diese Kreativitätstechnik eignet sich für bahnbrechende Innovationen, für die Neuentwicklung und Weiterentwicklung von Produkten, denn aus der Natur können überraschende Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Die Bionik wird zur Ideenfindung und Problemlösung in technischen und verfahrenstechnischen Bereichen eingesetzt. Sie kann auch zur Verbesserung und Optimierung bestehender Funktionen oder Systemen dienen. Es erfolgt auch die Anwendung bei komplexen Zusammenhängen, in Forschungsprojekten, in der Biologie, Mikrobiologie und Medizin, z. B. in der Orthopädie und Pharmakologie, in technischen Bereichen, z. B. Architektur, Brückenbau, Verkehrstechnik, Flugzeugbau, Haus- und Gerätetechnik, Maschinenbau, für die Energieversorgung, Informatik und Robotik, aber auch im Design-Bereich. (vgl. Schröder, 2005, S. 287)
Die Natur kann aber nicht nur bei Produkt- und Design-Innovationen, bei Einzelkonstruktionen oder Entwürfen, bei Ideen-Varianten oder Kombinationen als Vorbild dienen, sondern auch für ganzheitlich vernetzte Denkprozesse, für übergreifende methodische Prinzipien, z. B. für Grundregeln der Biokybernetik mit Vorbildfunktion für komplexe technische Systeme sowie für das Verknüpfen bionischer Aspekte in den Konstruktionsprozess. Die Gestaltungs- und Entwicklungsprinzipien der Natur können für eine positivere Vernetzung von Mensch, Umwelt und Technik dienen. Bei der Suche nach Problemlösungen ist also die Einbeziehung der Bionik von weitreichender Bedeutung. Dazu gehört auch die wirtschaftlich-technische Anwendung biologischer Organisationskriterien, wie das Bioting, bei dem Unternehmensprozesse nach dem Vorbild von Naturgesetzen gestaltet werden. (vgl. Baumgartner-Wehrli, 2001) → Analogie-Technik
Beispiele:
Die Natur hat Formen, Strukturen, Organismen und Prozesse hervorgebracht, deren Studium eine reiche Quelle für menschliche Problemlösungen darstellt. Die Natur diente als Vorlage für zahlreiche Erfindungen, wie z. B. für die Aerodynamik von Flugzeugen, für den Hubschrauber, für die Fotolinse, für den Klettverschluss bei Kleidungsstücken u. a. Der Samen des Löwenzahns und sein Flugvermögen dienten als Vorbild für die Entwicklung des Fallschirms. Die bionischen Untersuchungen des Echo-Schall-Mechanismus einer Fledermaus führten zur Entwicklung des Doppler-Radars.
Die Qualle besitzt eine Sensibilität für Infraschall, wodurch sie aufkommende Stürme auf dem Meer rechtzeitig zu erkennen vermag. Sie stellt ihre Schwimmbewegungen ein und lässt sich in die Tiefe sinken, um der Gefahr zu entgehen. Nach diesem Vorbild wurde ein Medusenbarometer entwickelt, das als Frühwarnsystem die zu erwartenden Sturmfluten rechtzeitig anzeigt.
Die Arzneimittelindustrie wendet eine lebensrettende Idee nach dem Vorbild der Natur an: „Es gibt eine Schmetterlingsart, die gegen Vögel einen wirksamen Abwehrmechanismus entwickelt hat. 10 % dieser Art besitzen ein starkes Herzgift, das bei einem potentiellen Konsumenten einen zwar nicht tödlichen, aber dennoch sehr starken Herzanfall hervorruft. Da giftige und ungiftige Schmetterlinge äußerlich nicht voneinander unterscheidbar sind, werden sie von Vögeln zukünftig gemieden. Eine analoge Lösung wurde von einem großen Pharmakonzern entwickelt, um Überdosierungen von Schlaftabletten zu verhindern bzw. ihre fatalen Auswirkungen zu unterbinden. Bei dieser sog. Schmetterlingsschlaftablette ist das eigentliche Schlafmittel mit einem Brechmittel gekoppelt, das bei normaler Dosierung keinerlei Wirkung zeigt. Bei Überdosierungen wird allerdings die zum Übergeben führende kritische Menge des Brechmittels schneller erreicht als die kritische Menge des Schlafmittels; es kommt zum Erbrechen, und die gefährliche Wirkung des Schlafmittels wird damit rechtzeitig unterbunden“ (Arbinger, 1997, S. 97).
Der Botaniker Wilhelm Barthlott (*1946) entdeckte 1975 die selbstreinigende Oberflächenstruktur der Kapuzinerkresse. In den 1980er Jahren untersuchte er gemeinsam mit einem Mitarbeiterteam an der Universität Bonn die Blätter der Lotusblume. Wasser und Schmutzartikel perlen von dieser Blume ab. Die Botaniker stellten fest, dass der Selbstreinigungseffekt der Pflanzenblätter auf speziell wasserabweisenden Eigenschaften und auf eine feine Noppenstruktur zurückzuführen ist. Dieser Effekt wird inzwischen technisch genutzt, z. B. bei der Herstellung neuer Fassadenfarben, für Lacke, Dachziegel und Keramiken. Der Lotus-Effekt ist ein rechtlich geschütztes Markenzeichen für selbstreinigende Oberflächen. (vgl. Schröder, 2005, S. 5 f.)
Diese Kreativitätstechnik eignet sich für Einzel- und Teamarbeit.
Lit.: Aerssen, B. v./Buchholz, Ch. (Hrsg.): Das große Handbuch Innovation. 555 Methoden und Instrumente für mehr Kreativität und Innovation im Unternehmen. München 2018; Allen, R./Kamphuis, A.: Das kugelsichere Federkleid: Wie die Natur uns Technologie lehrt. Heidelberg 2011; Arbinger, R.: Psychologie des Problemlösens. Eine anwendungsorientierte Einführung. Darmstadt 1997; Barthlott, W./Neinbuis, C.: Lotus-Effekt und Autolack. Die Selbstreinigungsfähigkeit mikrostrukturierter Oberflächen. In: Biologie in unserer Zeit. Bd. 28, 5/1998, S. 314–321; Baumgartner-Wehrli, P.: Bioting. Unternehmensprozesse erfolgreich nach Naturgesetzen gestalten. Wiesbaden 2001; Bengelsdorf, C.: Bionik – Stellenwert in der deutschen Industrie. München, Ravensburg 2011; Blüchel, K. G.: Bionik. Wie wir die geheimen Baupläne der Natur nutzen können. München 22006; Blüchel, K. G./Malik, F.: Faszination Bionik. München 2006; Blüchel, K. G./Nachtigall, W.: Das große Buch der Bionik. Neue Technologien nach dem Vorbild der Natur. Stuttgart, München 22003; Brunner, A.: Kreativer denken. Konzepte und Methoden von A-Z. Lehr- und Studienbuchreihe Schlüsselkompetenzen. München 2008; Cerman, Z./Barthlott, W./Nieder, J.: Erfindungen der Natur. Bionik – Was wir von Pflanzen und Tieren lernen können (rororo science). Reinbek bei Hamburg 2005; Drachsler, K.: Einsatz der Bionik als Methode im Produktentstehungsprozess. Stuttgart 2007; Hill, B.: Naturorientierte Lösungsfindung. Entwickeln und Konstruieren nach biologischen Vorbildern. Renningen-Malmsheim 1999; Lenk, H.: Postmoderne Kreativität – auch in Wissenschaft und Technik? In: Abel, G. (Hrsg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie 26.–30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge. Hamburg 2006, S. 260–289 [passim S. 262–266: Bionik zur kreativen Anregung]; Luther, M.: Das große Handbuch der Kreativitätsmethoden. Wie Sie in vier Schritten mit Pfiff und Methode Ihre Problemlösungskompetenz entwickeln und zum Ideen-Profi werden. Bonn 2013; Nachtigall, W.: Bionik. Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler. Berlin, Heidelberg, New York 22002; Ders.: Biologisches Design. Systematischer Katalog für bionisches Gestalten. Berlin, Heidelberg, New York 2005; Ders.: Bionik. Lernen von der Natur. München 2008; Ders.: Bionik als Wissenschaft. Erkennen – Abstrahieren – Umsetzen. Berlin, Heidelberg 2010; Nachtigall, W./Pohl, G.: Bau-Bionik: Natur – Analogien – Technik. Heidelberg, Berlin 2013; Nachtigall, W./Wisser, A.: Bionik in Beispielen: 250 illustrierte Ansätze. Heidelberg 2013; Schröder, M.: Heureka, ich hab’s gefunden! Kreativitätstechniken, Problemlösung und Ideenfindung. Herdecke/Bochum 2005; Zobel, D.: Systematisches Erfinden. Methoden und Beispiele für den Praktiker. 5. Aufl., Renningen 2009.
Bisoziationstechnik (bisociation tehnique): Der Begriff »Bisoziation« wurde 1964 von dem ungarischen Schriftsteller Arthur Koestler (1905–1983) geprägt und bezeichnet den Prozess, in dem einzelne Gedanken verknüpft und miteinander