Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis. Группа авторов
beziehungsweise Heimatmuseen, die bauliche Relikte und Zeugnisse einer veränderten Lebenswelt oft unter nostalgischen Gesichtspunkten bewahrten und unter Vernachlässigung der ästhetischen Dimension eine erzieherische Funktion einnahmen. Als außerschulischer Lernort verstand sich auch das 1899 in Brooklyn eröffnete erste Kindermuseum.
Die Museumsarbeit im 19. Jahrhundert gliederte Hanno Möbius (2006) in drei „Spannungsverhältnisse“: erstens Konflikte zwischen nationalen und internationalen Perspektiven, zweitens die ursprünglich enzyklopädische Ausrichtung vieler Sammlungen versus zunehmende Spezialisierung und drittens die Balance zwischen antiquarischer Bewahrung und gegenwartsbezogener Ausstellungspraxis.8 Die Frage, für wen die Museen agieren – die Fachwissenschaft oder bildungshungrige Laien – machte eine neue Auseinandersetzung mit dem Sammeln und Ausstellen notwendig und führte
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nicht zuletzt zur Trennung der Schau- und Studiensammlungen: Depots wurden zu einer bedeutenden Raumkategorie für Museen. Gleichzeitig lässt sich mit der 1905 erfolgten Gründung der Zeitschrift Museumskunde ein Professionalisierungsschub festmachen, der den fachlichen Austausch förderte. Bemerkenswert ist die Forderung nach eigenen Ausbildungskursen für Museumsmitarbeiter – ob Frauen für die Museumsarbeit „geeignet“ seien, war noch Gegenstand von Diskussionen.
Den Anschluss an die Gegenwart zu finden, war für alle Museumssparten um die Jahrhundertwende eine dringliche Problematik. Reformer wie der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark wollten das Museum an die Gegenwart heranführen und für breite Bevölkerungsschichten attraktiv machen. Ein prominentes Ereignis, das die wichtige Position des Museums in ideologisierten Gesellschaftsdebatten veranschaulicht, ist der Kongress für Arbeiterwohlfahrt in Mannheim, wo 1903 verlangt wurde, die Museen als Volksbildungsstätten auszurichten. Als Orte der Aufklärung ohne historischen Anspruch verstanden sich die Sozialmuseen, die im Bereich der Bildungs- und Wohlfahrtsarbeit wirkten und Öffentlichkeit für Fragen der Hygiene, des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung herstellten, allerdings den konsequenten Gegenwartsbezug im Laufe der Jahre oft nicht durchhalten konnten und veralteten: Ungewollt wurden sie zu historischen Museen.
Mit dem Ersten Weltkrieg fand dieser in Form der „Kriegssammlungen“ Eingang in die Museen – eine spezifische Form der Musealisierung der Gegenwart. Kriegspropaganda-Wanderausstellungen sollten die Moral der Daheimgebliebenen stärken und die im Feld heroisieren. Nach dem Krieg entwickelten Avantgardisten neue Methoden der Ausstellungspräsentation: Friedrich Kiesler ein spezielles „Träger und Leger“-Displaysystem, Otto Neurath eine innovative Methode der Bildstatistik, und Herbert Bayer setzte neue Maßstäbe in Ausstellungsgrafik und Raumgestaltung. Letzterer stellte sich sowohl in den Dienst der Nationalsozialisten, die das Medium Ausstellung perfide für die Verbreitung ihres fatalen Kultur- und Gesellschaftsbildes zu nutzen verstanden, arbeitete aber auch für das 1929 in New York gegründete Museum of Modern Art, das sich als erstes Museum ausschließlich der modernen Kunst widmete und künftig neue Maßstäbe in der internationalen Museumslandschaft setzte. In der Nachkriegszeit schickten große Häuser, wie etwa das Kunsthistorische Museum Wien, Teile ihrer Bestände auf Wanderausstellungen durch die USA, da vor Ort die zum Teil kriegsbeschädigten Museumsgebäude erst instand gesetzt werden mussten.9 Sobald wieder ausgestellt
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werden konnte, wollten die europäischen Museen universelle humanistische Werte vermitteln und präsentierten Exponate entkontextualisiert als rein ästhetisches Erlebnis.
In den späten 1960er-Jahren wurde daher im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche die politisierte Forderung nach dem „demokratischen Museum“ laut; Philosophen wie Theodor Adorno von der Frankfurter Schule kritisierten die Leblosigkeit der Museen und die ihnen anhaftende Aura des Elitären und des Verstaubten. Die Vertreter der neuen Denkrichtung verwehrten sich gegen die institutionelle Wahrnehmung des Museumspublikums als unkritische KonsumentInnen. Um die isoliert präsentierten, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen Objekte wieder verstehbar zu machen, wurden sie mittels ausführlicher Texte kontextualisiert und redimensioniert: Doch auch die nicht materiell überlieferte Geschichte – z. B. gesellschaftlicher Randgruppen – sollte erzählt werden (Beispiel: Historisches Museum Frankfurt) oder in eigenen, neuen Museumstypen wie den Frauenmuseen zum Ausdruck kommen. Das Museum sollte als „Lernort“ verstanden werden, nicht als Musentempel. Alltagsobjekte fanden vermehrt Eingang in Museumssammlungen oder eröffneten durch neue Präsentationsstrategien wie dem Musée Sentimental anstelle der bisherigen „objektiven“ Wissensdarbietung emotionale Angebote historischer Sinnbildung.
Den Versuchen, die Vergangenheit zu verstehen und sich mit historischer Schuld auseinanderzusetzen, verdanken sich in den 1980er-Jahren viele Gründungen von jüdischen Museen in Deutschland und Österreich, die zumeist auf eine Initiative der Nachkommen der Tätergeneration zurückgingen.10 Ausgehend von einer archäologischen Spurensuche im realen wie im metaphorischen Sinn, wurde erkannt, dass jüdische Museen oftmals auf keine historischen Objekte zugreifen können, da diese im Lauf des Zweiten Weltkriegs (oft gezielt) vernichtet wurden. Deshalb mussten Erzähl- und Darstellungsstrategien gefunden werden, die mit der Leerstelle arbeiteten, die beispielsweise im Jüdischen Museum Wien durch eine Hologramm-Ausstellung sinnlich erfahrbar wurde. Mit Objektfülle und Inszenierungspraktiken aus dem Theaterwesen arbeiteten dagegen die seit den 1970er-Jahren beim Publikum beliebten Großausstellungen wie Preußen – Versuch einer Bilanz (1981), Traum und Wirklichkeit. Wien 1870 – 1930 (1985), während die vom Centre George Pompidou in Paris initiierten, Städte vergleichenden Ausstellungen wie Paris – Moskau (1979) auf die globaler werdenden Kontexte des Ausstellens verwiesen. Im Berufsfeld entstand eine Trennung der Tätigkeitsbereiche der KustodInnen als SammlungsverwalterInnen und der
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KuratorInnen, die gemeinsam mit ArchitektInnen Ausstellungen produzierten. Mit der Person Harald Szeemann und seiner Agentur für geistige Gastarbeit beziehungsweise dem Museum der Obsessionen (2001) war die Profession des „freien“, also institutionell unabhängigen Ausstellungsmachers erfunden,11 Frauen folgten kurze Zeit später. Diese sollte zukünftig die Praxis der Museen enorm verändern, denn es eröffnete sich ein Spannungsfeld zwischen institutionalisierten und nicht-institutionalisierten AusstellungsmacherInnen sowie eine stärkere Differenzierung zwischen jenen, die Sammlungen verwalten, und jenen, die Inhalte und Objekte anhand von Storylines in den Ausstellungsraum übersetzen. Zusätzlich gerieten die traditionell agierenden großen Museen mit ihren selektiv-deutungsmächtigen Repräsentationspraktiken der In- und Exklusion in die Kritik. Damit verbunden waren und sind Prozesse der Dekolonialisierung und der Restitution von zu Unrecht in Museumssammlungen befindlichen Objekten, die fallspezifisch diskutiert werden müssen. Es rückte ins Bewusstsein, dass Raub seit der Französischen Revolution eine gängige Praxis des Sammlungszuwachses für die modernen Museen darstellte.12 Doch wie so oft in den Geschichten der Museen bedeutete die subkutan verlaufende Krise der großen Museen, die angesichts der – sich in den Museumsdepots niederschlagenden – Explosion der Dingwelt regelmäßig auf uninventarisierte Bestände stießen und dafür kritisiert wurden, Aufwind für andere Museumsformate: Spektakuläre (postmoderne) Museumsneu- beziehungsweise -zubauten – zumeist für die Präsentation moderner Kunst – entwickelten sich zu Pars-pro-toto-Sujets ganzer Städte, wie etwa im spanischen Bilbao, wo Frank O. Gehry für die Solomon R. Guggenheim-Foundation ein Museum für zeitgenössische Kunst baute, das seit 1997 als touristischer Anziehungspunkt etliche tausend Arbeitsplätze in der Region erhält. Kritische Stimmen polemisierten gegen Gentrifizierungsmaßnahmen nach dem Guggenheim Prinzip (Hilmar Hoffmann 1999) und die Globalisierung des Museumswesens im ausgehenden 20. Jahrhundert, das in seiner vielschichtigen Komplexität der