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entsprechend zu konzeptualisieren, um bislang marginalisierte oder gänzlich ausgeblendete Narrative in den Blick zu rücken.28 Ein wichtiges Referenzprojekt ist in diesem Zusammenhang The Invisible History of Exhibitions, das sich seit 2008 in Form von internationalen Konferenzen, Publikationen und einer Reihe von (Recherche-)Ausstellungen, u. a. Parallel Chronologies (Budapest 2009, Karlsruhe 2010, Riga 2011), der Wissens- und Diskursproduktion zu Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Osteuropa seit den 1960er-Jahren widmet.29 Da experimentelle künstlerische und kuratorische Entwürfe der Zeit vor 1989 kaum dokumentiert sind und in der internationalen Geschichtsschreibung schlichtweg nicht vorkommen, ist ein zentrales Ziel des Forschungsprojekts die Erarbeitung eines umfassenden Archivs, das in verschiedenen Formaten zugänglich gemacht werden soll.
Die Problematik einer westlich-hegemonialen Ausstellungsgeschichte adressierte auch die Konferenz Landmark Exhibitions: Contemporary Art Shows since 1968, die im Oktober 2008 in der Tate Modern London stattgefunden hat und deren Beiträge im darauffolgenden Jahr publiziert wurden.30 Der Begriff des Meilensteins wird hier bewusst auf Ausstellungen bezogen, die bislang aus dem existierenden Diskurs ausgeschlossen waren und die die Organisatoren Marko Daniel und Antony Hudek wie folgt
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charakterisieren: „art beyond Europe and the USA, the non-Western, the non-White, and the non-hetero-normative“ 31. Die verschiedenen, jeweils thematisch fokussierten Beiträge der beteiligten KünstlerInnen, KuratorInnen, KunsthistorikerInnen und TheoretikerInnen zeugen von einer Bandbreite methodischer Zugänge und verfolgen nicht die Intention eine oder die Ausstellungsgeschichte zu schreiben; vielmehr bestehen sie darauf, Meilensteine in möglichen Ausstellungsgeschichten im Plural zu markieren. Dies impliziert eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Kanonisierung von Ausstellungen – eine Diskussion, die erst in jüngster Zeit intensiver geführt wird. So etwa in einer rezenten Ausgabe des Manifesta Journal – Journal of contemporary curatorship mit dem Titel The Canon of Curating 32: In Anbetracht des viel zitierten Desiderats einer Historisierung von Ausstellungen und damit von kuratorischer Praxis im Kunstfeld und im gleichzeitigen Bewusstsein der seit den 1970er-Jahren vehement formulierten Kritik am Konzept der Kanonisierung und ihren Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, stellt sich gegenwärtig die Frage, nach welchen Kriterien, anhand welcher Terminologie und mit welchem methodologischen Instrumentarium dies zu bewerkstelligen sei. Auch wenn in Fachdiskursen immer wieder die Rede davon ist, dass es keinen verbindlichen Kanon der wichtigsten Ausstellungen seit der Moderne gäbe, lassen sich gerade die genannten Überblickswerke als mehr oder weniger beabsichtigte Versuche verstehen, einen solchen zu schreiben. Die angesprochenen Auslassungen und blinden Flecken und deren Bearbeitung in der neueren kritischen Forschung ebenso wie ein „curating within culture“ im Gegensatz zu einem „curating within the canon“, wie Okwui Enwezor seine kuratorische Maxime beschreibt,33 bestätigen zudem die Notwendigkeit einer differenzierten Perspektivierung.
In The Canon of Curating wird das Thema durchaus kontroversiell diskutiert. So tritt Bruce Altshuler in seinem Text A Canon of Exhibitions im Sinne der Kenntnis wichtiger historischer Referenzen für die Formulierung eines – sich verändernden, ständig erweiternden – Kanons bedeutender Ausstellungen ein. Mit Bezugnahme auf seine früheren Arbeiten und deren Ansatz weiterentwickelnd, schlägt er zunächst eine Unterscheidung vor zwischen jenen Ausstellungen, die aufgrund ihrer kunsthistorischen Bedeutung kanonisiert werden, und jenen, die in Hinblick auf kuratorische
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Innovation Eingang in die Ausstellungsgeschichtsschreibung finden.34 Erstere werden gemeinhin mit der Einführung radikal neuer künstlerischer Strategien insbesondere durch die Avantgarden des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden. Charakteristisch ist für diese frühen Gruppenausstellungen experimenteller zeitgenössischer Kunst, dass sie oft von den KünstlerInnen selbst, manchmal von GaleristInnen, selten aber von MuseumskustodInnen organisiert wurden. Beispiele dafür sind unter vielen anderen die Erste Ausstellung der Impressionisten im Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines in Paris 1874, die erste Ausstellung der Künstlergruppe Die Brücke im Präsentationsraum einer Lampenfabrik in Dresden 1906, die Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter in einer Galerie in München 1911, die erste Ausgabe der als Armory Show bekannt gewordenen International Exhibition of Modern Art in einem Zeughaus der Nationalgarde in New York City 1913 oder auch die Letzte futuristische Bilderausstellung 0,10 in einer Galerie in Petrograd 1915. Kuratorische Neuentwürfe hingegen differenziert Altshuler in Hinblick auf verschiedene Aspekte des Ausstellens: Innovative Formen des Displays, wie beispielsweise in El Lissitzkys Raum der Abstrakten im Provinzialmuseum Hannover 1927/28 oder in der Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie Beaux-Arts in Paris 1938; Erweiterungen des Ortsbegriffs, wie etwa in der ersten 1955 von der Gutai-Gruppe in einem Pinienhain in Ashiya ausgetragenen Experimentellen Freiluftausstellung Moderner Kunst zur Herausforderung der Sengenden Sonne des Hochsommers, in der vom New Yorker Kunsthändler und Kurator Seth Siegelaub organisierten Katalogausstellung The Xerox Book von 1968/69 oder in den seit 1990 vom Wiener Museum in Progress initiierten Ausstellungen auf Plakatwänden und in Tageszeitungen; Erweiterungen des Zeitbegriffs, wie in der auf fünf Plattformen ausgedehnten und de-zentralisierten Documenta11 2001/02; sowie konzeptionell-kuratorische Experimente, wie zum Beispiel Andy Warhols Künstlerkurator-Ausstellung Raid the Icebox für das Rhode Island School of Design Museum of Art von 1970 oder das Delegieren kuratorischer AutorInnenschaft in der Großausstellung Dreams and Conflicts der Venedig Biennale von 2003. Wie Altshuler ausführt, erfüllen eine Vielzahl von Ausstellungen die Kriterien beider „Kanon-Gruppen“, beispielsweise die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin
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1920, die nicht nur radikal mit einem traditionellen Kunstbegriff bricht, sondern auch alle Konventionen des Ausstellens über Bord wirft.35
Angesichts der berechtigten Kritik, die der Kanonisierung unter kunsthistorischen oder kuratorischen Gesichtspunkten entgegengebracht wird, sieht Altshuler ein wesentliches Potenzial in einer unabgeschlossenen Erweiterung der genannten Merkmale um soziale, ökonomische und politische Faktoren, ohne sich auf einen Kriterienkatalog festlegen zu wollen. Er verweist hier beispielhaft auf die Nazi-Propagandaausstellung Entartete Kunst, die zwischen 1937 und 1941 in 13 Städten gezeigt wurde und nicht aus kunsthistorischer oder kuratorischer Sicht, sondern aufgrund ihrer politisch-ideologischen Funktion von Bedeutung für die Ausstellungsgeschichte ist. Abschließend resümiert er:
While it can be used for purposes of constraint and limitation, the designing of particular exhibitions as canonical is expansive as well. We can see this in the way that accounts of major shows have stimulated research on other exhibitions and inspired creative curatorial efforts. But, in addition, such expansiveness appears when study and new ideation react against an existing canon instead of reinforcing it. For canons are dynamic constructs, their identification taking the form of absolute judgments but functioning also as springboards to further conversation and inquiry. Like exhibitions, they are nodes in structures of transaction and value.36
Während Bruce Altshuler also an einer Geschichtsschreibung durch die Kanonisierung einzelner Ausstellungen festhält, stellt Simon Sheikh in seinem Beitrag zum selben Band dieses Modell grundsätzlich in Frage. Unter dem Titel On the Standard of Standards, or, Curating and Canonization beleuchtet er detailliert die Problematiken dieses Ansatzes. Zunächst analysiert er den Prozess der ständigen Inklusion und Exklusion als konstitutiv für das Konzept der Kanonisierung, dem ein innerer Widerspruch eingeschrieben ist: Ein Kanon ist niemals vollständig, immer zu limitiert