Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis. Группа авторов
aber auch transzendieren, ihnen wird somit eine zugleich spezifische wie universelle Funktion und Bedeutung zugewiesen. Paradoxerweise zeichnet sich ein solcherart legitimierter, verbindlicher Standard demnach letztlich durch Instabilität und Unmöglichkeit aus.
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Die Kanonisierung kuratorischer Praxis impliziert neben einem Kanon relevanter KünstlerInnen und Ausstellungen vor allem einen Kanon relevanter KuratorInnen, der selbstredend nur einen relativ kleinen Kreis singulärer Positionen beinhalten kann. Als Beispiel führt Sheikh hier Hans Ulrich Obrists bereits erwähnte Brief History of Curating an. Zentraler als die Frage, wer in den Kanon aufgenommen wird und wer nicht, sind dabei Fragen danach, wer das Recht hat, ihn überhaupt zu schreiben, aus welcher geografischen und zeitlichen Position heraus dies geschieht und welche Mechanismen dieser Legitimierung zugrunde liegen. Die Kanonisierung von KünstlerInnen, Ausstellungen und KuratorInnen durch KuratorInnen findet, so Sheikh, in hegemonialen institutionellen Settings statt, deren Machtposition im Wesentlichen von drei Parametern abhängt: Tradition, Öffentlichkeit und Kapital. Zuletzt nimmt er auch das Thema der Gegen-Kanonisierung in den Blick. Die bekannte Forderung und Strategie der Einbeziehung bislang ausgeschlossener Positionen hält Sheikh für wenig zielführend, da sich unter Aufrechterhaltung der beschriebenen Logik die an sich schon gegebene Schwierigkeit einer Stellvertretungsfunktion virulent verschärfe. Demgegenüber schlägt er vor, das Konzept der Kanonisierung gänzlich zu verabschieden und stattdessen eine conceptual history of art and curating zu entwerfen:
Instead of trying to expand the canon, we should dispose of it altogether, through epistemology as well as what can be termed a conceptual history of art and curating, drawing upon diverse ideas such as those of Michel Foucault and Reinhart Kosseleck, in which history is seen through ideas and concepts in terms of periodization rather than events, individuals, and, in our case, specific objects.37
Des Weiteren fordert er auch auf der Ebene des zeitgenössischen Kuratierens eine kontextualisierende Praxis ein, die nicht das Einzelwerk oder die individuelle Künstlerin fokussiert, sondern künstlerische, kulturelle und politische Zusammenhänge schafft, sowie ein Selbstverständnis, das gegen neoliberale Imperative auf Gemeinschaftlichkeit setzt.
Simon Sheikhs Konzept einer Ideengeschichte des Ausstellungmachens, das er bereits 2009 anlässlich eines Vortrags im Rahmen des ersten Kongresses des Forschungsprojekts
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Former West näher ausgeführt hat,38 vereint zahlreiche Forderungen der rezenten Theoriebildung im Ausstellungsfeld. So bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit dem komplexen Geflecht verschiedener Genres und Typen von Ausstellungen sowie deren Methodologien und feldspezifischen Funktionsweisen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Situation als wesentliche Grundlage dieses Neuentwurfs der Historisierung. Das Schreiben einer Ideengeschichte des Ausstellungmachens sollte dementsprechend von einer Sozialgeschichte des Kunst- und Ausstellungsfeldes begleitet werden. In Anlehnung an Reinhart Kosseleck können so synchrone Ereignisse (Ausstellungen) mit diachronen Strukturen (Kunst- und Ausstellungsfeld) verknüpft werden und ergeben ein umfassenderes Bild des Ausstellens als diskursive Praxis – seiner Strategien der Produktion und Darstellung, des Displays und der Vermittlung, differenzierter Modi der Ansprache verschiedener Öffentlichkeiten und der Zirkulation in lokalen wie internationalen Kontexten ebenso wie Prozessen der Validierung.
Wie eine Typologisierung jenseits einer konventionellen Aufzählung von der Einzelausstellung über die Themenschau und die Katalogausstellung bis hin zur Ausstellung als Sozialprojekt 39 skizziert werden könnte, zeigt Sheikh anhand einer Periodisierung orientiert am Wendejahr 1989. Bezugnehmend auf den Begriff der a-historischen Ausstellung, den Debora Meijers in Hinblick auf kuratorische Arbeiten von Harald Szeemann, Rudi Fuchs und Peter Greenaway eingeführt hat,40 differenziert er verschiedene Typen des Formats der thematischen Ausstellung, die allesamt einem Diskurs des Neuen verpflichtet sind. Die a-historische Ausstellung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die traditionelle chronologische Anordnung, die lange als konstitutiv für museale Kontexte gelten konnte, außer Kraft setzt, und stattdessen einen thematischen Zugang favorisiert, der meist die Produktion neuer künstlerischer Arbeiten beinhaltet und die Figur des Kurators / der Kuratorin als AutorIn eines subjektiven Narrativs des Zeitgenössischen stark macht. Das Museum als institutioneller Kontext nähert sich dabei dem Modell der Kunsthalle als Produktionsort zeitgenössischer Kunst an.
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Beispiele dafür wären etwa das Centre Pompidou in Paris und das Stedelijk Museum in Amsterdam. Ein weiterer Typus der thematischen Ausstellung orientiert sich an künstlerischen Medien wie Malerei, Skulptur, Film oder Verbindungen zwischen künstlerischer Produktion und Medien (z. B. „Kunst und Film“) und setzt das Neue in Bezug zu einer Tradition (z. B. „Neue Malerei“). Ein sehr präsenter Typus der letzten Dekaden ist zudem die geografische Ausstellung, die die Kunstproduktion eines spezifischen Standortes – einer Stadt (based in Berlin, 2011), eines Landes (Young British Artists, ab 1988) oder einer Region (Nordic Miracle, 1990er-Jahre) fokussiert. Hier geht es oft um ein Entdecken unbekannter und scheinbar unvergleichlicher Positionen durch eine/n KuratorIn, die selbst nicht der jeweiligen Szene angehört und aus der Perspektive des internationalen Kontexts die Besonderheit zu erkennen vermag. Dass die Produktion eines Diskurses des Neuen in Themenausstellungen ganz wesentlich von den ökonomischen Strukturen des Kunstmarkts determiniert ist, lässt sich sehr gut an der Ausstellungspraxis der Kunstmessen der letzten Jahre ablesen, die immer aufwendigere Gruppenausstellungen zeigen, um letztlich eine Auswahl individueller künstlerischer Positionen zu platzieren.
Die 1990er-Jahre verzeichnen aber auch eine Reihe von Gegenentwürfen beziehungsweise parallelen Entwicklungen zur thematischen (Groß-)Ausstellung. So etwa die Projektausstellung, die aus der Auseinandersetzung mit Ansätzen der Institutions- und Repräsentationskritik hervorgeht und einen Neuentwurf der Ausstellung als künstlerisches Medium intendiert. Diese wird im Sinne geteilter AutorInnenschaft in einem kollektiven Prozess erarbeitet und versteht sich als politische Praxis, die eine Öffentlichkeit für virulente gesellschaftliche Fragen schafft. Beispielhaft sind hier die Projekte der Shedhalle in Zürich ab den frühen 1990er-Jahren,41 als wichtiger Vorläufer dieses Typus können die Ausstellungen der New Yorker KünstlerInnengruppe Group Material ab den späten 1970er-Jahren gelten.42 Ein weiteres Gegenmodell ist das Format der un-exhibition, das mit den alternativen Kölner Kunstmessen Unfair 1992 und Messe 2ok 1995 eingeführt wird. Die Nutzung des zeitlichen und räumlichen Settings von Ausstellungen zielt in der un-exhibition nicht auf die Präsentation von Kunstwerken, sondern auf die Formierung von Gegen-Öffentlichkeit. Die Produktion von Diskursen löst die Produktion von Ausstellungen ab. Beispiele dieser Praxis
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sind das 1994 von der damaligen Bundeskuratorin Stella Rollig gegründete Depot in Wien und das von Maria Lind verantwortete Programm des Kunstvereins München zwischen 2001 und 2004.
Die Mitte der 1990er-Jahre erstmals ausgetragene Europäische Biennale zeitgenössischer Kunst Manifesta markiert eine besonders interessante Entwicklung: Basierend auf dem mit der Venedig Biennale ab 1895 etablierten Prinzip eines zweijährigen Rhythmus, findet jede Ausgabe der Manifesta in einer anderen europäischen Stadt statt, deren Spezifität jeweils zu berücksichtigen ist. Das Erschließen neuer, innovativer künstlerischer Praktiken ist konzeptuell ebenso angelegt wie die Bezugnahme auf gesellschaftspolitische Thematiken. Die Manifesta wird von wechselnden KuratorInnenteams kollektiv erarbeitet und zeichnet sich durch Prozessualität und Diskursivität aus. Sie vereint demnach eine Vielzahl verschiedener Ausstellungstypen und zeugt damit von der Komplexität einer möglichen Taxonomie historischer und gegenwärtiger Modelle des Ausstellens.
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