Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis. Группа авторов
im kuratorischen Diskurs. Der ephemere Charakter des Mediums Ausstellung allein vermag dieses Vergessen nicht zu erklären. Vielmehr führt Staniszewski es auf die Disziplin der Kunstgeschichte zurück, die mit ihrem individualisierenden Blick auf einzelne Kunstwerke oder Œuvres deren Präsentationskontexte – und damit den überwiegenden Teil ihrer unmittelbaren Rezeption in einer Konstellation mit anderen Exponaten – zumeist ausblendet.15
Dass die Geschichte von Ausstellungen lange nicht selbstverständlich in die Kunstgeschichte integriert wurde, sondern als nicht kompatibel, sogar strukturell widersprüchlich galt, zeigt die französische Kunsthistorikerin Judith Souriau in ihrem 2010 publizierten Vortrag L’histoire des expositions: Une nouvelle histoire de l’art?.16 Vor dem Hintergrund einer künstlerischer Reflexion des Ausstellungsformats seit den historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und seiner steigenden Bedeutung als konstituierender Faktor von Kunst an sich, schlägt Souriau vor, Ausstellungsgeschichte als Meta-Geschichte der Kunst zu begreifen und zu untersuchen.17 Weniger zurückhaltend
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benennt Florence Derieux dieses veränderte Verhältnis in ihrer Einleitung zu einer Anthologie über das kuratorische Werk von Harald Szeemann: „It is now widely accepted that the art history of the second half of the 20th century is no longer a history of artworks, but a history of exhibitions“ – um gleich darauf auch das damit einhergehende Desiderat anzusprechen: „However, this critical history still largely remains to be written.“ 18 Die einflussreichen KunsttheoretikerInnen Yve-Alain Bois, Benjamin H. D. Buchloh, Hal Foster und Rosalind Krauss etwa tragen dieser Entwicklung in ihrem 2004 erschienenen umfassenden Überblickswerk Art Since 1900 dahingehend Rechnung, als sie Ausstellungen – mit zunehmender Dichte ab Mitte des Jahrhunderts – in ihr Narrativ einweben.19 Trotz der kontextualisierenden Herangehensweise bleibt der Fokus aber auf der Kunst und werden Ausstellungen kaum und nicht systematisch als ästhetisches Medium in its own right behandelt.
Ansätze einer solchen Perspektivierung finden sich bereits in der von dem Galeristen Bernd Klüser und der Kunstberaterin Katharina Hegewisch herausgegebenen Anthologie Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts (1991), die formal und inhaltlich prototypische Ausstellungen zwischen 1899 und 1986 behandelt, sowie in Bruce Altshulers zentraler Publikation The Avant-Garde in Exhibition (1994), die in ebenfalls chronologischer Abfolge 13 Fallstudien zu Gruppenausstellungen der Avantgarde zwischen 1905 und 1969 umfasst. Ab den 1990er-Jahren kommt demnach ein neues Nachdenken über Ausstellungen in Gang, das die Notwendigkeit einer historischen Verortung erkennt.20 Ausdruck findet dies neben den erwähnten Studien, zu denen auch Staniszewskis Power of Display von 1998 zu zählen
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ist, in einem Sammelband mit dem sprechenden Titel Thinking about Exhibitions 21, der rasch zu einem Standardwerk der Ausstellungstheorie avanciert. So macht er unter anderem den bahnbrechenden Aufsatz The Exhibitionary Complex (1996 [1992]) des britischen Soziologen Tony Bennett einem breiteren Fachpublikum zugänglich. Die von Reesa Greenberg, Bruce W. Ferguson und Sandy Nairne zusammengestellte Anthologie zeichnet sich durch einen grundlegend interdisziplinären Zugang aus und versammelt Beiträge von TheoretikerInnen und PraktikerInnen aus den Feldern Kunst, Cultural Studies, Philosophie, Ethnologie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Museologie.
Im Unterschied zur akademischen Kunstgeschichte, die sich dem Thema recht zögerlich annähert, wird hier ein Erkenntnisinteresse in unterschiedlichen Disziplinen deutlich, das auf die stetig wachsende Bedeutung von Ausstellungen als das Format und Medium kultureller Produktion in einem globalen Zusammenhang reagiert. Mit dem Ausstellungsboom der späten 1980er- und 1990er-Jahre, der sich unter anderem am sprunghaften Anstieg international ausgetragener Biennalen ablesen lässt, geht die Gründung erster Curatorial-Studies-Programme einher, die einen Professionalisierungs- und Theoretisierungsschub im Bereich des Ausstellungmachens auslösen.22 Das Desiderat ausstellungshistorischer Forschung aus der Perspektive der Praxis wird damit einmal mehr virulent. Angesichts der überschaubaren Literatur zur Geschichte des Kuratierens und Ausstellens findet die Auseinandersetzung vielfach auf der Ebene einer Oral History involvierter AkteurInnen und ZeitzeugInnen statt, die auch als ReferentInnen in kuratorischen Ausbildungen eine zentrale Rolle spielen. Manifest wird diese erzählte Geschichte im publizistischen Genre des Interviewbands, einem scheinbar voraussetzungslosen, niederschwelligen Format der Wissensgenerierung und -vermittlung. Als der Kurator Hans Ulrich Obrist 2008 eine solche Sammlung von elf Interviews mit verdienten KollegInnen unter dem etwas irreführenden Titel A Brief History of Curating veröffentlicht, wird die Problematik dieses Zugangs deutlich, handelt es sich doch um sehr subjektive, oftmals anekdotische und letztlich disparate Narrative. Wie Simon Sheikh kritisch angemerkt hat, konstruiert Obrist hier einen Kanon von – im Übrigen überwiegend männlichen – PionierInnen im kuratorischen Feld und impliziert sich selbst als direkten Nachkommen dieser Generation.23 Die
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2000er-Jahre verzeichnen aber auch eine Reihe neuer Arbeiten, die auf Studien der vorangegangenen Dekade aufbauen: So publiziert der Kunsthistoriker und Kurator Bruce Altshuler 2008 den ersten Teil seines auf zwei Bände angelegten Überblickswerks Salon to Biennial – Exhibitions That Made Art History, der die Periode von 1863 bis 1959 umfasst. Dabei erweitert und systematisiert Altshuler die in seinem Buch von 1994 getroffene Auswahl einflussreicher Ausstellungen und erschließt in 24 Case Studies zum Teil erstmals (wieder) veröffentlichtes Quellenmaterial wie Ankündigungen, Ausstellungsansichten und Auszüge aus Korrespondenzen, begleitenden Publikationen und zeitgenössischen Kritiken. Er legt damit eine nicht zu unterschätzende Grundlage für weiterführende Forschungsarbeiten und zeigt insbesondere in Hinblick auf den methodischen Zugang zur Geschichtsschreibung von Ausstellungen die Wichtigkeit des Quellenstudiums auf.
Des Weiteren ist die von Charles Esche und Mark Lewis initiierte Schriftenreihe Exhibition Histories 24 hervorzuheben, die die Geschichte kuratorischer Praxis im zeitgenössischen Kunstfeld der letzten 50 Jahre ausgehend von spezifischen Ausstellungen in zum Teil komparativen Studien aufarbeitet. Zeitgenössisches Archivmaterial, Quellentexte, Kritiken, Rezensionen und umfassende visuelle Dokumentationen werden kontextualisiert, aus der Perspektive der Gegenwart analysiert und auf ihre Relevanz im Gesamtzusammenhang des Kuratierens und Ausstellens befragt. Exhibition Histories geht aus einem mehrjährigen, fortlaufenden Forschungsprojekt am Central Saint Martins College of Art and Design London 25 hervor, das neben den bislang erschienenen hervorragenden Publikationen 26 auch die internationalen Konferenzen Conceptual Art and its Exhibitions (Akademie der bildenden Künste Wien 2008), Exhibitions and the World at Large (Tate Britain London 2009) und Art and the Social: Exhibitions of
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Contemporary Art in the 1990s (Tate Britain London 2010) hervorgebracht hat.27 Die hier betriebene Forschungsarbeit setzt sich nicht nur in Hinblick auf die langfristige, multiperspektivische Beschäftigung mit dem Thema von bisherigen Ansätzen der Historisierung ab; hervorzuheben ist insbesondere der Versuch, den vorherrschenden Rahmen einer westeuropäisch-nordamerikanisch geprägten Perspektive zu verlassen. Vor dem Hintergrund hegemoniekritischer und postkolonialer Theoriebildung und der massiven Globalisierung des zeitgenössischen Ausstellungswesens unter radikal veränderten politischen und ökonomischen