Einführung in die Beratungspsychologie. Susanne Nußbeck

Einführung in die Beratungspsychologie - Susanne Nußbeck


Скачать книгу
deren Leiter meist Verwaltungsfachleute ohne sozialpädagogische Ausbildung waren. Den Jugendämtern angegliedert entstanden Erziehungsberatungsstellen, die oft unter der Leitung von Kinderärzten oder Psychiatern standen (Sommer 1995).

      1931 gab es neben den Beratungsstellen der Jugendämter mehr als 100 freie oder kirchliche Erziehungsberatungsstellen (Dietzfelbinger et al. 2003). Beratung umfasste zu der Zeit überwiegend konkreten Informationsbedarf und die Sicherung des Lebens unter als allgemein gültig angenommenen sozialen Norm- und Wertvorstellungen in den Bereichen Bildung, Erziehung, Leben und Beruf (Großmaß 2004b) und verstand sich weniger als Interaktion zwischen Berater und grundsätzlich gleichberechtigten und eigenverantwortlichen Menschen in kritischen Lebenssituationen denn als Hüter einer den gesellschaftlichen Normen entsprechenden Lebensweise.

      Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die in der NS-Zeit gleichgeschalteten und teilweise geschlossenen Beratungsstellen neu gegründet oder umgestaltet. In den fünfziger Jahren gab es Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche und deren Eltern als Erziehungsberatungsstellen auf kommunaler Ebene oder in kirchlichen Trägerschaften. Ehe-, Familien- und Lebensberatung wird jedoch auch noch am Anfang des 21. Jahrhunderts weiterhin überwiegend von den Kirchen angeboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Erziehungsberatung immer noch eher ein autoritäres Fürsorgesystem, in dem Beratung der normativen Lenkung diente (Großmaß 2004b). Nach 1970 nahm die Zahl der Erziehungsberatungsstellen deutlich zu. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) wurde dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen. Vielfältige Lebensentwürfe werden heute akzeptiert, die sich nicht allgemein gültigen Normen unterordnen lassen. Erziehungsberatung wird im Sinne von Hilfe zur Konfliktlösung als Anspruch an die Jugendhilfe festgeschrieben (Menne 2017).

      Geschichte der Berufsberatung

      Ein zweiter Strang institutionalisierter Beratung in Deutschland entstand 1927 mit dem „Gesetz über die Einrichtung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung – AVAVG“. Damit wurde die staatliche Berufsberatung eingeführt (R. Thiel 2004), die bis 1997 ein Monopol der Arbeitsverwaltung blieb. Die Aufgaben der Berufsberatung waren zunächst die Vermittlung von Lehrstellen und Arbeitskräften (Schröder 2004). Infolge der Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes und der zunehmend vielfältigeren beruflichen Anforderungen wurden später auch individuelle und gesellschaftliche Probleme in die Berufsberatung einbezogen. Sie wurde damit zur Einzelberatung, zur Hilfe zur Selbsthilfe, fast eine „Kurztherapie“ bei Vermittlungsproblemen, die in der Person des zu Vermittelnden gesehen werden. Assessments, testpsychologische Feststellung der Fähigkeiten, um Personen an Stellen anzupassen, wurden weitere Bereiche der Berufsberatung.

      Wandel des Verständnisses von Beratung

      In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam es aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, die durch die Studentenbewegung von 1968 ausgelöst wurden, zu einem intensiven Ausbau des Beratungsangebotes, das dann zunehmend psycho-soziale Beratung umfasste (Schröder 2004). Beratung wird nun ein stärker psychologisches Hilfeangebot, das sich an den Bedürfnissen und Problemlagen der Klientel orientiert. Die Vermittlung von Informationen und das Anpassen an Wertvorstellungen der Gesellschaft traten in den Hintergrund und Beratung rückte in die Nähe von psychotherapeutischen Verfahren. Besonders die Anregungen aus der humanistischen Psychologie wurden übernommen und die Techniken der klientzentrierten, nicht-direktiven Gesprächsführung werden bis heute als Basisqualifikation für Psychologen und Sozialpädagogen angesehen. Mit der systemischen Sicht auf Familien und andere Gruppierungen, in denen Menschen leben, änderte sich der Blick auf die Problemlagen. Nicht mehr die einzelne Person steht im Vordergrund der Erziehungs-, Ehe- oder Lebensberatung, sondern das System, in dem die Person lebt und das sie mit konstituiert.

      Felder psycho-sozialer Beratung

      Pädagogik und Soziale Arbeit sind nach wie vor die wichtigsten Felder psychologischer Beratung. Die Bereiche, in denen sie angeboten wird, weiteten sich jedoch aus. Seit den sechziger Jahren etablierte sich Bildungsberatung als neuer Zweig (Schröder 2004), der Orientierungs- und Entscheidungshilfen bei der Realisierung individueller und gesellschaftlicher Bildungsziele beinhaltet. Studienberatung als Weiterführung der Bildungsberatung entstand nicht zuletzt aufgrund sich immer weiter ausdifferenzierender Studienangebote, die kaum mehr überschaubar waren (Stiehler 2004). Selbsthilfegruppen zu allen Wechselfällen des Lebens formierten sich in den siebziger Jahren (W. Thiel 2004). Der Psychiatrie-Enquête (1975) folgten sozialpsychiatrische Reformen und entsprechende Beratungs- und Betreuungsangebote für psychisch kranke Menschen (v. Kardorff 2004). Beratung wird in vielen Feldern des sozialen Lebens als unabdingbar angesehen, und eine Beratungspflicht in manchen Bereichen auch zur Voraussetzung für Entscheidungen gemacht: So ist die Schwangerschaftskonfliktberatung bei gewünschtem Abbruch der Schwangerschaft seit 1976 vorgeschrieben (Koschorke 2004), vor die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe oder der Agentur für Arbeit ist ein Beratungsgespräch gesetzt. Mit dem Drogenproblem, das seit den siebziger Jahren zu einem besonderen Problem der Jugendhilfe wurde, kamen Drogen- und Suchtberatungsstellen hinzu (Vogt / Schmid 2004). Heute gibt es Beratungsstellen für praktisch alle Lebens- und Problemlagen.

      Ausbildung für Berater

      Angesichts dieser Entwicklungen wird wohl niemand die Notwendigkeit einer Ausbildung in Beratungsmethoden und -kompetenzen bestreiten. Beratung wird in allen Feldern menschlicher Entwicklung und zwischenmenschlicher Konfliktmöglichkeiten und von Organisationen, die sich mit diesen Problemen befassen, als wichtiges Element angesehen. Weiterbildende, berufsbegleitende Studiengänge und Masterstudiengänge an (Fach)Hochschulen und privaten Hochschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten haben sich etabliert. In der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB) haben sich 21 Verbände zu einem Dachverband zusammengeschlossen und ein Konsenspapier zum Beratungsverständnis herausgegeben, das u.a. eine Weiterbildung auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Studiums vorsieht und ständige Qualitätssicherung fordert (DGfB 2003). Der Trend geht also auch in Deutschland in Richtung auf eine vereinheitlichte und Qualitätsansprüchen genügende, anerkannte Ausbildung psycho-sozialer Berater.

      Counseling in den USA

      In den angloamerikanischen Ländern hat sich eine eigene Beratungswissenschaft schon länger etablieren können. In der von Witmer am Ende des 19. Jahrhunderts eröffneten psychologischen Klinik und der nachfolgenden Child-Guidance-Bewegung, die sich heilpädagogisch und erzieherisch Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten widmete, liegen ihre Ursprünge (Rechtien 2004b). Die Tatsache, dass psychisch kranken und entwicklungsgestörten Kindern durch therapeutische Interventionen geholfen werden konnte, veränderte den Blick in der Öffentlichkeit und führte in der Psychologie dazu, mehr auf das Entwicklungspotential zu achten als auf Defizite, die überwunden werden müssen (Gelso / Fretz 1999). Die Entwicklung zu einer eigenen Disziplin schlägt sich in den USA durch die Gründung einer Division „Counseling and Guidance“ der American Psychological Association (APA) bereits im Jahr 1946 nieder. Ausbildungsrichtlinien werden von der APA herausgegeben und sorgen so für einen professionellen Standard.

      Counselling in Großbritannien

      In England wurde 1970 die „Standing Conference for the advancement of counselling“ gegründet, die 1977 in die British Association for Counselling (BAC) überging. Im Jahr 2000 wurde mit der Erweiterung des Namens in British Association for counselling and psychotherapy (BACP) die fachliche Nähe von Beratern und Therapeuten deutlich, die in England gegenüber dem Ratgeben, Überwachen und der Sozialen Arbeit stärker als in Deutschland betont wird (Feltham 2004). 2018 wurde das „Ethical framework“ überarbeitet, wobei insbesondere ein evidenzbasiertes Vorgehen in der Beratung betont wird (BACP 2018).

      Empowerment

      Im Zuge der in den sechziger Jahren in den USA entstandenen „Community Psychology“, im Deutschen als Gemeindepsychologie übersetzt, kam der Empowerment-Gedanke (Rappaport 1985) in die Beratungskonzepte. In der Gemeindearbeit ging es zunächst um ein gemeindenahes Versorgungssystem zur Bekämpfung von Rassenunruhen und Armut. Heute wird unter Empowerment, „Selbstbefähigung“, meist die „Hilfe zur Selbsthilfe“, das Wecken eigener Ressourcen der Ratsuchenden, verstanden. Der Blick auf die Stärken statt auf die Defizite der Klientel führt zu einer veränderten Sicht des Beratungsauftrages. Die Förderung von Ressourcen und Gesundheit der Klienten steht heute stärker


Скачать книгу