Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt


Скачать книгу
wir uns nur sicher, wenn wir wissen, „was vor sich geht“ (Goffman, 1977), d.h. in welchem sozialen Kontext wir uns befinden. Zur sozialen Situation gehören oft noch andere Personen wie Mithörer (z.B. in einer Gruppe), aber auch unbeteiligte Zuhörer. Innerhalb von Institutionen gibt es klar definierte soziale Situationen, z.B. eine Prüfung, ein Verhör, ein Restaurantbesuch. Sie beeinflussen, welche Inhalte in welcher sprachlichen Form (Wortwahl, Satzbau, Rhetorik) geäußert werden.

      Wenn wir in der Sprechstunde einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren, befinden wir uns in folgender kommunikativen SituationSituationkommunikative. Das Setting ist bekannt: Ein Schreibtisch mit Computer, Blutdruckmessgerät, daneben ein Stuhl für den Patienten und eine Liege für Untersuchungen usw. Die Situation bestimmt Inhalt und Form der sprachlichen Kommunikation. So stehen die Themen Gesundheit und Krankheit im Fokus. Wir erwarten und akzeptieren Fragen, die in anderen Situationen nicht angebracht sind: Wie klappt es mit dem Wasserlassen? Wie oft findet Geschlechtsverkehr statt? Wie viel Alkohol wird pro Tag getrunken? Gab es bereits Depressionen in der Familie? usw. Dabei herrscht eine strenge Komplementarität, denn Patienten dürfen derartige Fragen an den Arzt nicht stellen. Der Patient wird dem Arzt oder der Ärztin gegenüber seine Beschwerden anders formulieren als in der Familie. Während er in den heimischen vier Wänden oft furzen muss, spricht er in der Praxis von Blähungen, der Arzt von abgehenden Winden, Flatulenz oder Meteorismus. Der Patient ist auch bereit, sich auszuziehen – in diesem Kontext sich „freizumachen“, das direkte Wort „ausziehen“ wird diskret vermieden. Wir lassen uns an Körperstellen anfassen, die sonst der Intimkommunikation vorbehalten sind. Wir erwarten vom Arzt dabei einen nüchternen klinischen Blick. Wenn er zu einer Patientin sagt: „Sie haben einen hübschen Po“, so wäre diese wahrscheinlich irritiert, die Äußerung ist nicht situationsangemessen, der Arzt ist damit „aus dem Rahmen gefallen“.

      Die kommunikative SituationSituationkommunikative ist eine Schnittstelle, an der die Gesellschaft mit ihren Institutionen und die Personen mit ihren Intentionen aufeinandertreffen. Sie ist nicht statisch, sondern verändert sich mit der Entwicklung der Interaktion zwischen den Beteiligten.

      In der schriftlichen Kommunikation ist den Beteiligten die Kommunikationssituation meist weniger bewusst. Hier fehlt das gemeinsame Wahrnehmungsumfeld und die Kommunizierenden sind sich oft nicht bewusst, dass sie sich in einer sozialen Situation befinden.

      Wenn ein Studierender eine Masterarbeit schreibt und eine Professorin sie später liest, befinden sich beide ebenfalls in einer institutionellen sozialen Situation. Der Studierende weiß, was seine Betreuerin inhaltlich gern lesen möchte und er kennt die Regeln wissenschaftlicher Argumentation. Zudem kennt er den akademischen Schreibstil der jeweiligen Disziplin, er schreibt also adressatenorientiert und passt sich sozialen Normen an.

      Van Dijk & Kintsch (1983) haben ein „communicative context model“ eingeführt, van Dijk (2008) hat diesen Ansatz weiter ausgearbeitet. In dieses mentale Modellmentales Modell wird alles Wissen über die kommunikative Situation hineingesteckt: die geltenden Konventionen, die Images der Beteiligten, ihre Intentionen und ihr Vorwissen.

      AbsenderAbsender und AdressatAdressat

      Voraussetzung für Kommunikation sind Akteure: ein Absender, der mit einer Mitteilung etwas meint und ein Adressat, der durch die Mitteilung etwas versteht. Im mündlichen Dialog wechseln Absender und Adressat laufend ihre Rollen, beim Schreiben bleibt die Kommunikation oft einseitig. Das Modell stellt sozusagen nur einen eingefrorenen Moment in der Interaktion dar. Absender und Adressat fassen wir als Kommunikationspartner zusammen. Beide treten in die Kommunikationssituation mit unterschiedlichen Motiven und Intentionen sowie verschiedenen Wissensbeständen ein.

      MotiveMotiv und IntentionenIntention

      Die beiden oberen Ellipsen im Modell stehen für die basalen Motive (= Beweggründe), die sich in konkreten Intentionen (= Zielen) von Absender und Adressat manifestieren. Welche Basismotive die Menschen antreiben, dazu hat die Motivationspsychologie zahlreiche Ansätze geliefert, allerdings nur mit geringer Übereinstimmung. In das Gestrüpp der Triebe, Anreize, Motive, Bedürfnisse, Interessen usw. werden wir uns hier nicht begeben. Wir bleiben auf einer formalen Ebene.

      Nach Michael Tomasello (2009, S. 95ff.) liegen der unendlich großen Zahl an IntentionenIntention drei evolutionär entstandene basale Kommunikationsmotive zugrunde.

      Auffordern. Der Absender will, dass der Adressat etwas tut, was der Absender will, was ihm nutzt. In der Sprache entspricht dem der Imperativ, aber es gibt abgeschwächte Formen wie Bitten, Vorschlagen, Hinweisen (ausführlich Herrmann & Grabowski, 1994).

      Informieren. Der Absender will, dass der Adressat etwas weiß, das für ihn – oder für beide – relevant ist. Er hilft dem anderen, indem er ihn informiert und damit für geteiltes Wissen sorgt. Hier liegt eine Wurzel für kooperatives und prosoziales Handeln.

      Teilen. Der Absender will, dass der Adressat Gefühle, Stimmungen oder Einstellungen mit ihm teilt, dass er sozusagen mitfühlt. Dieses Mitteilungsmotiv liegt vielen alltäglichen Gesprächen (Smalltalk) zugrunde, die weder auffordern noch informieren, aber den sozialen Zusammenhalt fördern.

      MotiveMotiv gehen den IntentionenIntention voraus, sie sind sozusagen der tiefere Grund für die Intention (Achtziger & Gollwitzer, 2006). Während die Intentionen den Kommunikationspartnern bewusst sind, müssen dies die Motive nicht immer sein. Alle Intentionen eines Absenders verfolgen letztlich das Ziel, das Denken oder Handeln des Adressaten zu beeinflussen. Wir gehen damit von einem Primat der Persuasion in der sprachlichen Kommunikation aus, die als Überreden oder als Überzeugen ausprägt sein kann.

      ÜberredenÜberreden. Diese Kommunikation ist einseitig wirkungsorientiert, es dominieren IntentionenIntention des Absenders, den Adressaten in seinem Sinne zu beeinflussen, zu einer Änderung der Einstellung oder zu einem bestimmten Verhalten. Dem entspricht das basale Motiv des Aufforderns. Zahlreiche Sprachverwendungen haben eine direkte persuasive Funktion, vom Verschleiern, Täuschen, Aufbauschen, Kleinreden bis zum Lügen. Verständlichkeit ist beim Überreden nicht unbedingt erforderlich.

      ÜberzeugenÜberzeugen. In der verständigungsorientierten Kommunikation sind die Beteiligten sozial motiviert, ein Einverständnis oder wenigstens einen Kompromiss über ein Problem herzustellen. Dabei sind die basalen Motive des Informierens und Teilens dominant. Argumentation ist der rationale Versuch, den Adressaten mit schlüssigen Gründen zu überzeugen. Für die rationale Verständigung ist Verständlichkeit eine zentrale Forderung.

      Überredung und Überzeugung sind zwei Seiten jeder Kommunikation: Sprache ist ein Werkzeug zur Persuasion und zur Verständigung. Die basalen Kommunikationsmotive können eine Vielzahl von spezifischen IntentionenIntention hervorbringen. Im Prinzip gibt es keine Absicht, die man nicht auch sprachlich verfolgen kann (Herrmann, 2005). Einen Sachtext liest eine Person, um damit etwas zu erreichen, z.B. Wissen zu erwerben, ein Gerät zu bedienen, eine Entscheidung zu fällen, ein Problem zu lösen usw. (Sauer, 1999). Viele sprachliche Handlungen sind mehrfach determiniert, das Geflecht verschiedener Motive und Intentionen ist den Kommunizierenden nicht immer bewusst. Man kann sich über die eigenen Motive wie die der anderen täuschen.

      Geteilte IntentionenIntention

      Absender und Adressaten gehen beide mit bestimmten IntentionenIntentiongeteilt in eine Kommunikation, diese müssen aber nicht übereinstimmen. Geteilte oder kollektive Intentionen sind eine Basis für KooperationKooperation und schaffen ein Wir-Gefühl (Schmid & Schweikard, 2009). Aber gemeinsame Intentionen sind nicht der Normalfall, Kommunikation ist auch mit unterschiedlichen, gemischten und sogar widersprechenden Intentionen der Beteiligten möglich.

      Bei einer Gebrauchsanleitung stimmen die Intentionen der technischen Autorin und des Anwenders in einem Punkt überein: Das Gerät soll problemlos bedient werden. Beim Autor kommen aber noch andere Intentionen dazu: Der Text muss Regressforderungen im Rahmen der Produkthaftung vermeiden. Und die Anleitung sollte einen werbenden Charakter haben, damit der Anwender weitere Produkte des Herstellers kauft, sie soll die Kundenbindung stärken. – Der Anwender hingegen will das Gerät möglichst schnell in Betrieb nehmen, er überspringt die Listen mit Warnhinweisen am Anfang


Скачать книгу