Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt
Oft kommuniziert eine Person mit gemischten Intentionen: So ist es die Absicht eines Wissenschaftlers, über seine neuen Befunde und seine neue Theorie zu berichten, aber dazu kommen kollaterale Intentionen, die mit der Konkurrenz im Wissenschaftssystem und der Eitelkeit und Geltungssucht der Wissenschaftler zu tun haben. Der Wissenschaftler möchte Aufmerksamkeit erregen, mit Originalität imponieren und oft zitiert werden, um Drittmittel zu bekommen.
Kommunikation funktioniert auch ohne gemeinsame übergeordnete Intentionen, ja sogar mit entgegengesetzten Absichten. Auch ein Streit ist Kommunikation! Ein für Absender wie Adressat brauchbarer Text muss gleichwohl die Intentionen beider berücksichtigen, Elke Prestin (2001) hat dafür den Ausdruck „Intentionsadäquatheit“ vorgeschlagen.
Wissensbestände
Die beiden unteren Ellipsen im Modell stehen für die Wissensbestände von Absender und Adressat im LangzeitgedächtnisGedächtnisLangzeit- (LZG), die wir in folgende Bestandteile untergliedern:
SituationswissenWissenSituations-. Absender und Adressat wissen um die soziale Situation, in der sie kommunizieren, sie kennen die dafür geltenden Normen und Regeln.
WeltwissenWissenWelt-. Hiermit sind alle erworbenen Kenntnisse gemeint, die im Gedächtnis vorliegen. Jeder Mensch hat einen individuellen Bestand an Wissen, aber es gibt innerhalb einer Kultur auch ein übereinstimmendes kollektives Weltwissen in den Köpfen. Dieses allgemeine Wissen ist im semantischen GedächtnisGedächtnissemantisch gespeichert, z.B. die Tatsache, dass Frankreich ein Land in Europa und Paris seine Hauptstadt ist. Alle Theoretiker gehen davon aus, dass das Weltwissen in einer Form konzeptueller Netzwerke repräsentiert ist.
Erfahrungen. Hiermit sind die persönlichen Erlebnisse gemeint, die ein Mensch im Laufe seines Lebens ansammelt. Während das Weltwissen prinzipiell für alle zugänglich ist, sind die persönlichen Erfahrungen individuell. Sie sind im episodischen GedächtnisGedächtnisepisodisch gespeichert, z.B. dass ich den ersten Kuss in einem Urlaub in Paris in einer Metrostation ausgetauscht habe. Das episodische WissenWissenepisodisch enthält auch modalitätsspezifisches Wissen, vor allem visuelle und auditive Vorstellungen. Zu den für die Kommunikation relevanten Erfahrungen gehören auch diejenigen, die man bereits in anderen Situationen mit den beteiligten Partnern gemacht hat. Semantisches und episodisches Gedächtnis sind zwar neuronal getrennt, aber stehen in Interaktion (Tulving, 1972).
SprachwissenWissenSprach-. Ohne gemeinsame Beherrschung von Zeichensystemen oder Kodes ist Kommunikation unmöglich. Zum sprachlichen Wissen gehören das phonologische, orthografische, lexikalische, syntaktische und textuelle Wissen der Grammatik. Die natürliche Sprache besteht aus einem lautlichen Kode und einem später erworbenen schriftlichen Kode. Die sprachliche Kommunikation ist zudem mit paralinguistischen, mimischen und gestischen Kodes verknüpft, also grundsätzlich multikodal (Ballstaedt, 2015).
Personales WissenWissenpersonal. Der Absender verfügt über Wissen über den Adressaten, an den er seine Mitteilung richtet. Umgekehrt hat der Adressat ein Wissen über den Absender, nach dem er sein Verstehen ausrichtet. Das Wissen über den anderen wird als „model of the other person“ oder als ImageImage zusammengefasst. Der Aufbau eines Persönlichkeitsbildes des anderen beginnt beim Erstkontakt mit dem berüchtigten ersten Eindruckerster Eindruck: Ein Mensch ist sympathisch oder unsympathisch, wirkt mehr oder weniger intelligent usw. In das Image einer Person gehen ihre soziale Position und die damit verbundene Rolle mit ein. Anfangs werden Lücken durch soziale Stereotype wie „Student“, „Professor“, „Banker“ usw. geschlossen. Die Einschätzung des Wissens und der Intentionen des Gegenübers bleibt erschlossen und fragmentarisch. Dazu gehört auch eine Einschätzung, welche Definition der Situation der andere einbringt und damit die Möglichkeit, sich in die PerspektivePerspektive des anderen zu versetzen, eine der wichtigsten kommunikativen KompetenzenKompetenz. Diese ersten (Vor-)Urteile über die andere Person beeinflussen die weitere Kommunikation mit dieser Person und können sich im Verlauf der Kommunikation verändern. Wir testen sozusagen fortlaufend Hypothesen über die Person des anderen (Bach & Schenke, 2017). In der Kommunikation sind alle Beteiligten darauf bedacht, ihr Image in ihrem Sinne zu beeinflussen: Die Selbstdarstellung bzw. das Impression ManagementImpression Management ist ein persuasiver Bestandteil jeder Kommunikation.
In der Literaturtheorie wird bei fiktionalen Texten von einem impliziten Leser gesprochen, den ein Autor/eine Autorin beim Schreiben mitdenkt (Iser, 1976). Ebenso gibt es auf der Seite des Lesenden einen impliziten Autor, das ist die Vorstellung, die sich ein Lesender durch die Lektüre des Textes vom Autor konstruiert (Booth, 1974). Diese Überlegungen können auch auf Sachtexte übertragen werden.
In der hermeneutischen Tradition werden all diese subjektiven Wissensbestände als VorverständnisVorverständnis zusammengefasst. Das mitgebrachte Vorverständnis erschließt einerseits die Mitteilung, aber schränkt andererseits das Verstehen auch ein. Das unvermeidlich mitgebrachte Vorverständnis kann „für das neue Verstehen produktiv werden, aber auch in seiner Eingeschränktheit den Blick für das Andersartige verstellen und es von vornherein in den engen Horizont des eigenen Weltbildes zwängen“ (Kümmel, 1965, S. 31).
Geteiltes Wissen = Common GroundCommon Ground
Absender und Adressat bringen zwar ihre eigenen Köpfe mit, aber Kommunikation setzt eine teilweise Übereinstimmung der Wissensbestände voraus, einen Common GroundCommon Ground nach Herbert Clark (1997a, b) oder „culturally shared knowledge“ nach Walter Kintsch (1974). Gäbe es keinerlei geteiltes Wissen, dann wäre auch keine Kommunikation möglich, so als wenn wir einem Alien gegenüberständen, das andere Zeichensysteme benutzt, anderes VorwissenVorwissen, andere Erfahrungen und andere Konventionen einbringt. Je größer das geteilte Wissen, desto weniger muss explizit ausgedrückt werden, desto besser verstehen sich die Kommunikanten. Würden die beiden Ellipsen allerdings zusammenfallen, dann hätten die beiden Kommunikanten sich eigentlich nichts zu sagen. Kommunikation wird erst interessant, wenn man mit Unbekanntem und Abweichungen vom eigenen Wissen rechnen muss. Am Anfang einer Beziehung dient Kommunikation dazu, das gemeinsame Wissen zu ermitteln und auszuweiten, nach vielen Jahren des Zusammenlebens hat man sich dann weniger zu sagen, vieles kann als Common Ground unausgesprochen bleiben.
Zum geteilten Wissen gehört in der mündlichen Kommunikation auch das WahrnehmungsumfeldWahrnehmungsumfeld, in dem sich Absender und Adressat befinden. Und zum geteilten Wissen gehört auch alles, was vorher gesprochen oder geschrieben wurde, es wird als sprachlicher Kontext (oder Kotext) für die aktuelle Äußerung bezeichnet. Ein zusammenhängendes Gespräch kann nur kohärent sein, wenn die vorherigen Äußerungen beider Kommunikanten noch im episodischen GedächtnisGedächtnisepisodisch abrufbar sind.
MitteilungenMitteilung, Äußerungen
Das Herz der Kommunikation ist die Mitteilung, sie besteht aus Zeichen verschiedener Kodes. Mit ihr äußert der Absender, was er meint, und sie dient als Grundlage dafür, was der Adressat versteht. Eine Äußerung bringt etwas Erlebtes oder Gedachtes hörbar oder lesbar zum sprachlichen Ausdruck. Die meisten Mitteilungen sind multikodal, d.h. kombinieren mehrere Zeichensysteme. Auch sprachliche Zeichen sind stets in einen multikodalen Kontext eingebettet (Ballstaedt, 2016a). Gesprochene Sprache ist mit anderen Zeichensystemen wie Prosodie oder Gesten verknüpft. Geschriebene Sprache wird oft mit Abbildern und VisualisierungenVisualisierung kombiniert. Das bedeutet, „that language is always one of a number of semiotic (communication/representational) modes in use in any act of communication, and that language may not be the central mode“ (Kress, Ogborn & Martins, 1998, S. 69). Die Kombination von verschiedenen Zeichen kann zu sehr komplexen, sogar in sich widersprüchlichen Mitteilungen führen.
Noch eine terminologische Anmerkung: Bei Semiotikern und einigen Linguisten werden alle Zeichen eines Kommunikats als ein Text behandelt, also auch die Bilder. Wir gehen demgegenüber von einem engen Begriff von Text als zusammenhängender Satzfolge aus. Der weite Textbegriff verdeckt die kommunikativen und neuronalen Unterschiede des sprachlichen und bildlichen Kodes und führt dadurch zu unangemessenen Theorien und Methoden, die sich in Wörtern wie „Bildlinguistik“, „Bildgrammatik“, „Bildsprache“, „Bilderlesen“ usw. niederschlagen,