Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt


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      Eine sprachliche Mitteilung kann in verschiedenen MedienMedien transportiert, präsentiert und gespeichert werden. Die direkte Face-to-face-Kommunikation benötigt kein Medium, aber Texte können im Radio, in einem Buch, auf dem Monitor präsentiert werden. Medien sind der materielle bzw. apparative Anteil der Kommunikation. Inwieweit das Medium die Gestaltung und die Rezeption der Mitteilung beeinflusst, ist Thema der Medienlinguistik (Burger & Luginbühl, 2014; Schmitz, 2015). Wir gehen davon aus, dass die unteren Prozesse der Wahrnehmung von Texten – Laut- und Buchstabenwahrnehmung – medienspezifisch ablaufen, so werden z.B. Texte auf dem Monitor oder dem Smartphone flüchtiger gelesen als in einem Buch. Aber die Prozesse des Verstehens sind bei allen Medien gleich, die Richtlinien für sprachliche Verständlichkeit sind deshalb für alle Medien gültig.

      MeinenMeinen

      Wohl alle Sprachwissenschaftler sind sich darin einig, dass ein Absender mit seiner Mitteilung auf mehreren Ebenen etwas meinen kann. In seiner Sprachtheorie unterscheidet Karl Bühler (1982) beim Zeichengebrauch drei Funktionen: Darstellung, Appell und Ausdruck. Ein Beispiel für eine einfache Mitteilung.2 Situation: Der Satz wird von einem Kernkraftgegner mündlich geäußert oder in einem Flyer abgedruckt.

(1) Die radioaktiven Abfälle eines Kernreaktors belasten die Umwelt über Jahrtausende.

      Was meint der Absender mit dieser Äußerung und wie kann sie ein Adressat verstehen?

      Inhaltliche BedeutungBedeutunginhaltlich. Mit seiner Äußerung externalisiert der Absender Wissen über Dinge, Personen, Ereignisse. Das wörtlich Gesagte bezieht sich (= referenziert) auf die Wirklichkeit, hier auf die Auswirkungen von Radioaktivität. Zwei Aussagen werden getroffen:

(1.1) Kernreaktoren erzeugen radioaktive Abfälle.
(1.2) Radioaktive Abfälle belasten die Umwelt.

      Diese Aussagen sind grundsätzlich überprüfbar, sie sind wahr oder falsch. Die wörtliche Bedeutung lässt viel aus, was der Absender beim Adressaten in der jeweiligen Situation als gemeinsames Wissen voraussetzt, z.B. über Halbwertzeit radioaktiver Substanzen und über Schädigungen durch Strahlung. Aber der Absender meint noch mehr mit seiner Äußerung.

      Intentionale BedeutungBedeutungintentional. Wenn wir die Situation berücksichtigen, in der die Mitteilung ausgesprochen wird, will der Absender vor den Folgen der Kernenergie warnen. Die Warnung und der Appell sind nicht explizit formuliert, die intentionale Bedeutung muss vom Adressaten erschlossen werden.3

→ (1.3) Ich warne vor den Folgen der radioaktiven Abfälle von Kernkraftwerken.

      Der Absender will mit der Warnung erreichen, dass der Adressat z.B. einen Aufruf unterschreibt, sich an einer Demonstration beteiligt oder eine bestimmte Partei wählt. Sprechen und Schreiben ist immer auch zielgerichtetes Handeln.

      Expressive BedeutungBedeutungexpressiv. Der Absender bringt – ob er will oder nicht, bewusst oder unbewusst – einiges über sich zum Ausdruck, oft wird auch von Kundgabe oder Selbstoffenbarung gesprochen. In unserem Beispiel kommt die Sorge um die Zukunft unserer Umwelt oder die Angst vor einem radioaktiven Unfall zum Ausdruck. Gedanken, Gefühle und Vorstellungen, die ja nicht beobachtbar sind, können auch direkt geäußert werden.

→ (1.4) Ich mache mir Sorgen, dass unsere Kinder in einer verseuchten Umwelt leben werden.

      Der Satz (1.4) könnte explizit geäußert werden, aber oft bleiben die Gefühle hinter der Sprache verborgen. Bei Bühler ist das die Symptomfunktion der Sprache.

      Aus der Äußerung (1) kann man ersehen, dass ein Absender meist mehr meint als er sprachlich explizit mitteilt. Eine sprachliche Äußerung erfüllt mehrere Funktionen gleichzeitig. Existenziell verschärft ausgedrückt: Ob wir das wollen oder nicht, wir kommunizieren mit einer Äußerung immer auf den drei Ebenen. Dabei geht das Gemeinte über das explizit Gesagte oder Geschriebene hinaus, der Adressat muss das Gemeinte oft erschließen. Damit wechseln wir die Seite und sind beim Verstehen.

      Verstehen

      Verstehen wird zunächst als subjektives Gefühl erfahrbar: Der Adressat versteht eine Rede oder ein Buch bzw. er versteht, was der Absender damit meint. Dahinter steckt eine geistige Aktivität des Adressaten einer Mitteilung, die nicht direkt beobachtbar ist: Er konstruiert auf der Basis der Mitteilung mit Hilfe verschiedener Folgerungen – Fachwort: Inferenzen – ein bzw. sein Verständnis. Es muss ausdrücklich betont werden, dass keine Information vom Absender zum Adressaten fließt, deshalb ist im Bild 1 kein Pfeil vom Absender zum Adressaten durchgezogen, sondern zwei Pfeile zeigen von beiden Seiten auf die Mitteilung. Verstehen bedeutet keine spiegelbildliche Abbildung von Wissen des Absenders beim Adressaten! Der Absender gibt dem Adressaten mit der Mitteilung etwas zu verstehen. Dieses Verstehen umfasst ebenfalls die drei Funktionen der Kommunikation.

      Inhaltliches VerstehenVersteheninhaltlich. Wörtliches Verstehen ist das Ergebnis zahlreicher Verarbeitungsprozesse, die meist nicht bewusst sind: Über die Wörter werden Begriffe aktiviert und über die Syntax werden Beziehungen zwischen den Begriffen hergestellt (bottom-up). Über die aktivierten Begriffe wird wiederum VorwissenVorwissen aktiviert, das zu weiterführenden Inferenzen führt (top-down). Wer die Mitteilung (1) versteht, der muss wissen, was ein Kernkraftwerk ist (Stromerzeugung), welche Abfälle dort anfallen (Brennstäbe) und wie sie entsorgt werden können (Endlagerung). Die verwendeten Wörter und syntaktischen Konstruktionen bestimmen nicht das Verständnis, aber sie setzen deutliche Grenzen (constraints). Das Verstehen selbst einer einfachen Äußerung ist ohne Inferenzen nicht möglich. Das externalisierte Wissen ermöglicht dem Adressaten einen Einblick in das Wissen und Denken des Absenders.

      Intentionales VerstehenVerstehenintentional. Hier geht es um das Erkennen der Intentionen, die mit der Mitteilung verbunden sind. Warum hat sie mir das gesagt? Warum hat er das geschrieben? Welche Absicht steckt hinter einer Formulierung? Das intentionale VerstehenVerstehenintentional wertet in der mündlichen Kommunikation zusätzliche Zeichen aus wie Prosodie, Mimik, Gestik, in der schriftlichen Kommunikation sind die Absichten des Schreibenden oft schwerer zu verstehen. Bei der Äußerung (1) kann der Adressat die Intention erschließen, dass der Absender ihn zu einem Engagement gegen die Kernkraft oder zum Eintritt in eine Partei überzeugen will. Auch das intentionale Verstehen erfordert Inferenzen aufgrund von Vorwissen, Erfahrungen und Situation. Dazu trägt auch das Image bei, das der Adressat vom Absender als Vertreter einer bestimmten Institution hat.

      Expressives VerstehenVerstehenexpressiv. Hier geht es um das Verstehen, was der Absender mit seiner Mitteilung über sich ausdrücken möchte oder unbewusst ausdrückt. Dieses Verstehen setzt ein gewisses Maß an EmpathieEmpathie voraus. So kann ein Adressat durch die Mitteilung erkennen, dass der Absender besorgt ist, vielleicht ein ängstlicher Mensch, vielleicht ein Hysteriker. Oliver Scholz (2016) hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Verstehen von Texten vom Verstehen von Personen nicht klar abgrenzen lässt. Wenn ich z.B. einen Brief lese, so möchte ich den Text verstehen (inhaltliches Verstehen), aber auch den Absender des Briefes (intentionales und expressives Verstehen). Wer einen Text versteht, der versteht auch zu einem Teil seinen Urheber. Texte können deshalb als Grundlage für psychologische Diagnosen dienen (Tergan, Knäuper & Ballstaedt, 2003).

      Fassen wir mit einem Zitat zusammen: „Verbal comprehension starts with the recovery of a linguistically encoded sentence meaning, which must be contextually enriched in a variety of ways to yield a full-fledged speaker’s meaning“ (Wilson & Sperber, 2004, S. 259). Verstehen ist stets das Resultat einer Wechselwirkung von textgeleiteten (bottom-up) und wissengeleiteten (top-down) Verarbeitungsprozessen. In das Verstehen gehen damit Merkmale des Textes, aber auch Merkmale der Beteiligten ein (Ballstaedt & Mandl, 1988)4. Das Resultat des Verstehens ist ein Verständnis der Mitteilung. Dabei ist diese Trennung zwischen Prozessen (Verstehen) und Struktur (Verständnis) etwas künstlich, denn Strukturen


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