Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt
Verstehen erfolgt auf allen drei angesprochenen Ebenen: Der Adressat versteht Inhalt, Intention und Ausdruck. Die Ebenen des Verstehens können dissoziieren: Eine Person versteht, was gesagt wird, aber versteht nicht, warum es gesagt wird, welche kommunikative Intention dahinter steht (Bublitz & Kühn, 2009). Verstehen auf allen drei Ebenen ist eine anspruchsvolle Aufgabe und misslingt deshalb immer wieder. Da es hier um Fachtexte bzw. expositorische Texte geht, werden nur das inhaltliche und das intentionale VerstehenVerstehenintentional thematisiert, das expressive VerstehenVerstehenexpressiv wird – wie übrigens in den meisten Verstehenstheorien – vernachlässigt.
2.2 Verständigung als KooperationKooperation
Nachdem das Umfeld der Kommunikation, in dem Verstehen stattfindet, skizziert ist, steuern wir nun auf den Begriff der Verständlichkeit zu. In der Alltagssprache bezeichnen wir einen Text – z.B. eine Rede oder einen Aufsatz – als leicht verständlich, wenn wir ihn spontan und mühelos verstehen. Ein Text, bei dem wir uns um das Verstehen bemühen müssen, bezeichnen wir als schwer verständlich, wenn wir daran scheitern als unverständlich. Scheinbar ist dabei Verständlichkeit eine Eigenschaft eines Textes mit mehr oder weniger großer Ausprägung. Dabei vergessen wir aber, dass jeder Text Teil eines Kommunikationsprozesses ist, in dem eine Person sich mündlich bzw. schriftlich in einer Mitteilung äußert, die eine andere Person hört bzw. liest und zu verstehen versucht. In diesem störanfälligen Kommunikationsprozess entsteht Verständlichkeit erst in einer konkreten Kommunikation. „Der Text als Artefakt hat keine Verständlichkeit an sich, sondern erhält Zuschreibungen von Verständlichkeit erst durch seine Einbettung in einen kommunikativen Zusammenhang“ (Lutz, 2015, S. 188). Das kann man daran erkennen, dass ein Adressat einen Text leicht verständlich findet, ein anderer Adressat aber denselben Text schwer verständlich. Wie kommt Verständlichkeit in der Kommunikation zustande?
AdressatenorientierungAdressatenorientierung
Verständlichkeit ist zunächst eine Aufgabe für einen kooperativen Absender, der sich bemüht, dass seine Mitteilung für den Adressaten zu verstehen ist, indem er dessen Intentionen und Vorverständnis berücksichtigt und adressatenorientiert formuliert. Verständliche Kommunikation ist immer adressiert, d.h. auf eine bestimmte Person oder eine bestimmte Adressatengruppe ausgerichtet. Der Absender sucht dabei einen Kompromiss zwischen Verständlichkeit und sprachlichem Aufwand. Er formuliert gerade so ausführlich, dass er vom Adressaten mit einem Minimum an Verarbeitungsaufwand verstanden wird. Der Absender befolgt die Maxime: „Sorge dafür, dass dein Adressat dich versteht!“ Aber er versucht das selbst mit möglichst wenig Ressourcen beim Formulieren zu erreichen: „Wende dafür nicht zu viel Energie auf.“1
Ein schönes Beispiel ist der Baby Talk, mit dem ein Vater oder eine Mutter ein Kleinkind anspricht. Die Formulierungen werden automatisch an das VorwissenVorwissen und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes angepasst: Vokabular nur für Basisbegriffe, syntaktisch einfache Sätze, überzeichnete Artikulation, langsames Sprechtempo, Betonung wichtiger Wörter, sprechbegleitende Gesten.
Die Adressatenorientierung wird besonders bewusst bei persönlichen Texten, z.B. einem Liebesbrief oder einem Bewerbungsschreiben, die inhaltlich und sprachlich auf ihre Adressaten ausgerichtet sind und unbedingt überzeugen sollen. Hier erlebt der oder die Schreibende die mentale Wirkung eines „model of the other person“ deutlich: Was soll ich schreiben? Wie soll ich es schreiben?
Die Adressierung einer Äußerung verlangt vom Absender ein Verstehen anderer Personen, ihres Vorwissens, ihrer Intentionen, ihrer Mentalität, ihrer sprachlichen und kognitiven Kompetenzen (Newen, 2015). Zu diesem Erfassen der Persönlichkeit ist Empathie erforderlich, dabei geht der Absender teilweise vom eigenen Denken und Erleben aus.
RelevanzannahmeRelevanzannahme
Die Hauptverantwortung für Verständlichkeit trägt zwar der Absender, aber auch der Adressat muss sich um Verstehen bemühen. Dabei geht er davon aus, dass das Gesagte bzw. Geschriebene grundsätzlich verstehbar und für ihn auch relevant ist, dass für ihn etwas Wichtiges aus der Mitteilung herauszuholen ist. Diese Unterstellung als Voraussetzung für sprachliche Verständigung taucht bereits in der frühen Hermeneutik als „principle of charity“ auf: Es besagt, dass ein Adressat dem Absender zunächst mit Wohlwollen begegnen soll, er soll ihn als rationales Gegenüber akzeptieren, dessen Äußerungen einen Sinn machen. Die schreibende Person genießt somit einen Vertrauensvorschuss.
Das Prinzip der wohlwollenden InterpretationInterpretation war in der Scholastik eine Absicherung, da heilige Texte oft unklar und widersprüchlich sind. Ein wohlwollender Lesender verwirft sie aber trotzdem nicht. In verschiedenen Varianten taucht das Nachsichtigkeitsprinzip in der Philosophie immer wieder auf (Scholz, 2016). Dahinter steht ein Motiv des aktiven Verstehenwollens auch schwieriger Texte (Kap. 4.3).
Diese Ausrichtung auf Bedeutung in einer Mitteilung ist von verschiedenen Autoren betont worden. Bereits Frederic Bartlett (1932, S. 44) sprach vom „effort after meaning“ als einem kognitiven Grundbedürfnis. Hans Hörmann (1976, S. 179) prägte dafür das nur für Wahrnehmungspsychologen verständliche Wort „Sinnkonstanz“. Deidre Wilson & Dan Sperber (2004, S. 608) sprechen von „expectations of relevance“: „the search of relevance is a basic feature of human cognition, which communicators may exploit.“ Unser Gehirn ist sozusagen immer auf Sinnsuche in mündlichen Äußerungen wie in schriftlichen Texten, man könnte von einem kognitiven Basismotiv sprechen.
Diese kommunikative Vorannahme kann den AdressatenAdressat eines Textes dazu bringen, erheblichen Verarbeitungsaufwand zu betreiben, um ein Verständnis zu konstruieren. Er befolgt die Maxime: „Strenge dich an, den Absender zu verstehen!“ Das bedeutet oft ein wiederholtes Lesen und zusätzliche Anstrengungen, die über das spontane VerstehenVerstehenspontan hinausgehen, wir bezeichnen sie als InterpretationInterpretation. Eine Interpretation setzt ein, entweder weil sich kein Verständnis einstellt, oder weil der Adressat mit dem Verständnis nicht zufrieden ist (Heringer, 1984; Scholz, 2016). Während die Interpretation noch im Text verankert ist, entfernt sich eine Deutung oder AuslegungAuslegung vom Text, hebt sozusagen ab und ist oft durch den Text nicht mehr vollständig gedeckt. Hier taucht die Gefahr der unterstellenden Spekulation auf (Sontag, 2016). Bei Sachtexten ist diese Gefahr allerdings deutlich geringer als bei literarischen Texten.
Vom spontanen VerstehenVerstehenspontan über die InterpretationInterpretation zur AuslegungAuslegung oder Deutung steigert sich der Verarbeitungsaufwand. Interessant bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen diese Bemühungen um Verständnis abgebrochen werden. Jeder geht an einen Text mit der Einstellung heran, dass er grundsätzlich verstehbar ist, und ist deshalb auch frustriert, wenn er ihn nicht versteht. Jede nicht verstandene Äußerung ist eine Kränkung des Intellekts, der ein Betroffener mit Abbruch der Lektüre aus dem Weg gehen kann (dazu Kap. 4.4).
Textverständlichkeit als Kooperation zwischen einem adressatenorientierten Absender und einem relevanzorientierten Adressaten.
KooperationKooperation und VertrauenVertrauen
Verständlichkeit ist das Ergebnis einer gemeinsamen Bemühung, wobei allerdings der Absender in Vorleistung geht. Verständlichkeit ist „nicht nur eine Frage der Bringschuld des Autors, sondern auch der Holschuld des Lesers: So wie sich der Autor auf den Leser zubewegen muß, muß sich auch der Leser auf den Autor zubewegen“ (Biere, 1996, S. 292). In Anknüpfung an die Tradition kann man von einer rhetorischen Aufgabe des Absenders und einer hermeneutischen Aufgabe des Adressaten sprechen. Der eine muss sich um die Formulierung, der andere um das Verstehen bemühen. Für dieses Zusammenspiel wird gern das Wort KooperationKooperation verwendet. „In general, a theory of comprehension must account for interpretations the listener comes to based on the assumption that the speaker is cooperating with him“ (Clark & Haviland, 1977, S. 3). Hans Jürgen Heringer (2004) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kooperation hier etwas anderes meint als der übliche Begriff