Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts. Marco Mansdörfer
kurz – jetzt allerdings mit besonderem Bezug zur Rechtsordnung als sozialer Handlungsordnung für das Wirtschaftsstrafrecht – wiederholt werden.
a) Formale Gewährleistung konvergenter Verhaltensordnungen durch Verletzungs- und Gefährdungsdelikte sowie verwaltungsakzessorische Tatbestände
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Indem der Gesetzgeber zum Schutz eines bestimmten Interesses ein Verletzungsdelikt normiert, schafft er – anders als bei den Gefährdungsdelikten – eine Art Generalklausel, die die rechtlich missbilligte Verletzung dieses Interesses mit einer Sanktion belegt[450].
Das Auferlegen einer Sanktion verlangt dem Gesetzgeber allerdings in formeller Hinsicht besondere Anstrengungen ab. So dürfen wegen des Vorbehalts des Gesetzes strafrechtliche Sanktionen grundsätzlich nur auf der Grundlage von Parlamentsgesetzen verhängt werden[451] und die Normen müssen, um eine hinreichende handlungsleitende Wirkung entfalten zu können, hinreichend bestimmt sein. Art. 103 Abs. 2 GG fasst diese beiden Punkte in dem Grundsatz zusammen, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war. Damit wird die Orientierungssicherheit des Bürgers im Recht betont und eine mögliche Einbuße an Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit hingenommen; für das Wirtschaftsstrafrecht hat dies zur Folge, dass gerade die sanktionierten Grenzen des rechtlich zugestandenen Verhaltenskorridors besonders präzise bestimmt sind. Die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz werden heute gleichwohl je nach der Grundrechtsrelevanz und je nach Lebensbereich unterschiedlich streng durchgesetzt[452].
Das Postulat der Bestimmtheit einer strafrechtlichen Norm wird im Rahmen der Erfolgsdelikte trotz der generellen Bezugnahme auf beliebiges Verhalten in der strafrechtlichen Diskussion als weitgehend erfüllt betrachtet. Indem der strafrechtlich relevante Verletzungserfolg tatbestandlich umschrieben ist, erscheint das strafrechtlich relevante Unrecht hinreichend typisiert[453].
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Mit den Gefährdungsdelikten werden spezifische Vorgaben für eine ganz bestimmte Handlungssituation sanktionenrechtlich abgesichert.
Vor dem Hintergrund des angesprochenen Bestimmtheitsgebots werfen Gefährdungsdelikte insbesondere dann Probleme auf, wenn diese als Blankettstrafgesetze ausgestaltet sind[454]: Blankettstrafgesetze sind Strafgesetze, in denen zur Konkretisierung des Verbots- oder Gebotstatbestandes auf andere Rechtsakte bzw. technische Normen oder Standards verwiesen wird[455]. Bei einer einfachen Blankettnorm konkretisiert die ergänzende Norm lediglich den Tatbestand eines Strafgesetzes, während bei einer qualifizierten Blankettnorm die ergänzende Norm die Strafbarkeit eines Verhaltens grundsätzlich festlegt oder ausschließt[456]. Im Zusammenspiel von Verhaltens- und Sanktionsordnung ist es die Aufgabe dieser Blankettnormen, den richtigen Umgang insbesondere auch mit sehr heterogen ausgestalteten Arbeits- und Produktionsprozessen zu finden. Blankettstraftatbestände dienen als einfache und flexible normative Oberfläche, mit deren Hilfe das Straftatsystem mit dem Wirtschaftssystem interagieren kann. Gerade im Nebenstrafrecht wurde so für ganze Rechtsgebiete eine ganz exakte strafrechtliche Rahmenordnung etabliert[457]. Dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen Blankettstrafgesetze allerdings nur, wenn die Sanktions- und Ausfüllungsnorm hinreichend klar miteinander verknüpft sind und sich der Kern des strafbaren Verhaltens bereits aus dem Wortlaut des Blankettstrafgesetzes ergibt[458].
Eine individuelle Spezifizierung der Verhaltensordnung erfolgt über (verwaltungsakt)akzessorisch ausgestaltete Tatbestände, die direkt auf für einen konkreten Einzelfall bezogene Rechtsakte der Verwaltung Bezug nehmen[459]. Die Gesetzgebung setzt diese Technik insbesondere in zwei Bereichen ein: Zum einen dort, wo die normativen Vorgaben auf der Ebene der Spezialgesetze und sie konkretisierender Rechtssätze insgesamt noch zu lückenhaft oder konkretisierungsbedürftig sind, um eine hinreichende Verhaltenssteuerung gewährleisten zu können[460]. Zum anderen dort, wo der Realbereich einem solchen Wandel und einer solchen Vielfalt von Gegebenheiten unterliegt, dass eine abstrakt generelle Regelung nicht hinreichend bestimmt getroffen werden kann[461]. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz steht einer solchen Anknüpfung der Strafdrohung an einen Verstoß gegen einen Verwaltungsakt nicht grundsätzlich entgegen. Notwendig ist allerdings, dass die Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes hinreichend genau in einem parlamentarischen Gesetz festgelegt sind und der Verwaltungsakt seinerseits einen hinreichend konkreten Inhalt hat[462]. Schwierige Probleme können sich ergeben, wenn sich der Rechtsakt der Verwaltung, an den die Sanktionsnorm anknüpft, als fehlerhaft erweist und nichtig oder rechtswidrig ist und dadurch den Adressaten übervorteilt oder benachteiligt[463].
b) Materiale Gewährleistung konvergenter Zurechnungsstrukturen durch das Wirken von Strafe als Preis der Tat
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Unter ökonomischen Gesichtspunkten (Strafe als Preis) stellen die strafrechtlichen Verbote und die ihnen zugrunde liegende Verantwortungsverteilung soziale Entscheidungsregeln in Situationen des Wettbewerbs dar[464]. Sie sind eine vom Gesetzgeber festgelegte bzw. für die Konkretisierung im Einzelfall der Exekutive überantwortete Zielvorgabe für die Wirtschaftsteilnehmer.
Soziale Entscheidungsregeln sind z. B. das utilitaristische Prinzip, bestimmte Wahl- und Abstimmungsregeln oder auch Wirtschaftskonzepte wie das der sozial korrigierten Marktwirtschaft. Im Gegensatz zu solchen Entscheidungsregeln sind strafrechtliche Verbote – wie oben unter a) nochmals verdeutlicht wurde – konkret gefasst. Sie schützen entweder bestimmte Rechtsgüter bzw. Interessen oder sie beziehen sich auf konkrete Erfahrungsräume und formulieren dort die Grenzen spezifischer Rollenerwartungen.
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Zwar leidet die Strafgesetzgebung selbst – gerade in ihren Kernbereichen – an Unsicherheiten über ihre eigene Wirkweise und damit ihre eigene Rechtfertigung[465]. Es wurde indessen gezeigt, dass dieses düstere Bild für den rational kalkulierenden Täter nicht in diesem Ausmaß bestätigt werden kann und der rational am Eigeninteresse orientierte Täter doch das Leitbild des Wirtschaftsstrafrechts bildet. Die Prämisse rationalen Handelns scheint die Antwort vorzugeben: Der rationale Täter wird sich von Strafdrohungen dann von der Begehung einer Straftat abschrecken lassen, wenn das angedrohte Übel von ihm als negativ empfunden wird und die durch die Tat angestrebten Vorteile überwiegt[466]. Wenn das mit der Strafe verbundene Übel dagegen nur den angestrebten Vorteilen entspricht, wird die Straftat zur Alternative normkonformen Verhaltens. Wenn die Sanktion die durch die Tat erlangten Vorteile nicht aufbraucht, bleibt die Tat eine gewinnbringende Unternehmung, deren Attraktivität sich erst aus dem Vergleich mit anderen Handlungsalternativen ergibt. Bestehen in einigen Bereichen Strafverfolgungsdefizite, wird der Täter diese in Form einer Wahrscheinlichkeitsrechnung in seine Kalkulation einstellen[467]. Die Wahrscheinlichkeit, dass er eine Straftat begehen wird, wird also steigen.
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In der Praxis lässt sich diese Kalkulation allerdings durch verschiedene Mechanismen erschweren und mit zusätzlichen Unsicherheiten belasten: So werden in verschiedenen Bereichen Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungsbehörden zunächst personell verknüpft. Gerade das deutsche Recht stellt dazu in dem zum eigenständigen Sanktionszweig ausgebauten Institut der Ordnungswidrigkeit ein wirksames Instrument zur Verfügung. Hier werden insbesondere in speziellen wirtschaftsnahen Bereichen primär zur Gefahrenabwehr tätige Verwaltungsbehörden in die Strafverfolgung eingebunden, indem ihnen in einem ersten Schritt die Befugnis zur Verhängung einer Geldbuße eingeräumt wird. Die Geldbuße soll den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Tat gezogen hat, übersteigen und kann dazu das an sich vorgesehene gesetzliche Höchstmaß für Geldbußen sogar überschreiten[468].
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Die finanziellen Auswirkungen von Geldbußen bilden jedoch erst einen Teil ihrer Funktion innerhalb des sich wechselseitig bedingenden Gesamtsystems von individueller Freiheit und freiheitssichernden bzw. freiheitserweiternden Sanktionen. Eine praktisch gleichermaßen bedeutsame Funktion liegt in der funktionalen Verknüpfung des Verwaltungssanktionenrechts in Form des Ordnungswidrigkeitenrechts mit dem Kriminalstrafrecht. Diese funktionale