Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts. Marco Mansdörfer
umgehen können muss.
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Der dritte verbleibende Kern des Subsidiaritätspostulats liegt bei der Wahl der Sanktion: Hier erlangt der – in der bisherigen Darstellung eingeebnete – Unterschied zwischen Ordnungswidrigkeiten und Strafrecht seine innere Berechtigung[391]. Vor jeder Sanktionierung eines Verhaltens mit Kriminalstrafe muss demnach die Frage beantwortet werden, ob dieses Verhalten hinreichend qualifizierte Bedingungen erfüllt, um mit dem kommunikativen Unwertgehalt sanktioniert zu werden, der mit der Kriminalstrafe zum Ausdruck gebracht wird. Verlangt ein Verhalten nur eine Sanktion zur rein faktischen Normbestätigung – oder deutlicher noch: zur Bestätigung einer bloßen Ordnungsentscheidung des Gesetzgebers – etwa der folgenlose Verstoß gegen Vorschriften für Gefahrgütertransporte –, ist eine Kriminalstrafe regelmäßig nicht zu legitimieren. Anders ist dies, wenn neben der Ordnungsentscheidung des Gesetzgebers konkrete Individualinteressen beeinträchtigt werden – etwa bei Verätzungen der Atemwege von Dritten durch Giftdämpfe infolge des Unfalls eines ungesicherten Gefahrguttransports[392]. Gleiches gilt für den Einsatz von Strafrecht zum Schutz anderer als elementarer Voraussetzungen individueller Freiheiten und für den Einsatz des Strafrechts zum Schutz wirtschaftsethischer Axiome wie z. B. Marktneutralität oder Fairness[393]. Fragmentarisch einzelne Rechtsgutsverletzungen, etwa weil sie phänomenologisch seltener vorkommen, überhaupt nicht zu sanktionieren, ist dagegen schwer begründbar.
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › C › III. Konvergenz rechtlicher, strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungssysteme
III. Konvergenz rechtlicher, strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungssysteme
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Die bisherigen Ausführungen bezogen sich zunächst primär auf die Wirkweise ökonomischer und strafrechtlicher Steuerungsmechanismen und haben insoweit vor allem eine grundlegende Divergenz beider Steuerungsmechanismen hervortreten lassen: Ökonomische Steuerungsmechanismen setzen im Ausgangspunkt auf eine Wirksamkeit aus sich selbst; strafrechtliche Steuerungsmechanismen arbeiten dagegen mit Verhaltenserwartungen und der Androhung von Sanktionen für den Fall qualifizierter Verstöße gegen diese Erwartungen. Zugespitzt formuliert kann der ökonomische Steuerungsmechanismus somit als autonom, der strafrechtliche dagegen als heteronom qualifiziert werden.
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Aus diesem Unterschied in der Wirkungsweise beider Steuerungsmechanismen lassen sich in einem ersten Schritt erhebliche Folgen für die material inhaltliche Wirkungsrichtung beider Steuerungsmechanismen ableiten: In ihrer Wirkungsrichtung können heteronome und autonome Steuerungsmechanismen gegenläufig gerichtet sein und einander schwächen bis hin zur Aufhebung des einen oder anderen Mechanismus. Sie können aber auch gleichgerichtet sein und einander verstärken.
Beispiel:
Unternehmer A aus der metallverarbeitenden Industrie erzeugt bei der Produktion verunreinigtes Schmieröl, das aufgrund abfallrechtlicher Normen kostspielig als Sondermüll entsorgt werden müsste. Unternehmer B mit Tätigkeitsschwerpunkten in der Chemie- und Abfallbranche erzeugt bei der Synthese bestimmter Stoffe ein ähnliches Öl. Um die abfallrechtlichen Bestimmungen einzuhalten, wird das Öl über eine konzerneigene Pilotanlage zur Abfallbeseitigung entsorgt. Aufgrund der exakten Kenntnisse über die Zusammensetzung des entsorgten Abfalls kann Unternehmer B seine Pilotanlage optimieren und so seine Wettbewerbsposition im Markt um Abfallanlagen verbessern. Die unbefugte Beseitigung von Abfällen wird zwar gem. § 326 StGB mit Geld- bzw. Freiheitsstrafe sanktioniert, die Strafdrohung beeinflusst den Unternehmer B in seinem Handeln allerdings nur wenig. Seine erste Determinante ist die Weiterentwicklung seines Produkts „Entsorgungsanlage“. Die Strafnorm des § 326 StGB dokumentiert für ihn allenfalls als Symbol die Bedeutung des Umweltschutzes und die Absatzchancen seines Produkts. Für Unternehmer B ist der „Abfall“ ein wichtiger Stoff zum Betrieb seiner Pilotanlage, sodass er das Öl unabhängig von der gesetzlichen Sanktion dort verwenden würde. Die verwaltungsrechtlichen Regeln zum maximalen Schadstoffausstoß sind für ihn wesentliche Orientierungspunkte im Rahmen seiner Forschung und Entwicklung. Unternehmer A hat ein der normativen Steuerung gegenläufiges Interesse der möglichst kostengünstigen Abfallbeseitigung. Nach den Regeln der ökonomischen Entscheidungstheorie wird er das Öl daher nur dann als Sondermüll entsorgen lassen, wenn die Kosten der legalen Beseitigung nicht höher sind als die Kosten der illegalen Beseitigung, die sich im Fall des für A nahezu kostenlosen Einleitens des Öls in ein Gewässer oder in das Erdreich als Quotient der Kosten der Verurteilung und der statistischen Verurteilungswahrscheinlichkeit ergeben.
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Das Beispiel der Abfallbeseitigung in einem Industrieunternehmen zeigt freilich nicht nur die Wirkrichtung ökonomischer und rechtlicher Steuerungsmechanismen, es impliziert auch die wesentlichen Gedanken, aus denen sich die theoretischen Grundlagen für die Konvergenz ökonomischer und rechtlicher Steuerungsmechanismen entwickeln lassen. Der Begriff der Konvergenz[394] strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungssysteme bezeichnet das Zusammenstreben oder die Annäherung dieser auf den ersten Blick artfremden und wesensverschiedenen Steuerungsmechanismen in ihren Zielen und Prozessen. Da das formale Instrumentarium zur Herstellung einer solchen Konvergenz mit dem Mechanismusdesign als Anwendung der Spieltheorie bereits dargestellt wurde[395], soll es im Folgenden darum gehen, die Grundbedingungen und konkreten Erscheinungsformen der materialen Annäherung strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungsmechanismen näher zu beschreiben.
1. Konvergenz ökonomischer und primärrechtlicher Verhaltensordnung
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Kernaussage der Institutionenökonomie ist, dass die ökonomischen Handlungsbedingungen grundlegend von der konkreten Ausgestaltung des sozialen Wirtschaftsraumes abhängen[396]. Bevor detailliert auf das Zusammenwirken ökonomischer und strafrechtlicher Mechanismen eingegangen wird, soll daher in einem ersten Schritt die Konvergenz ökonomischer und primärrechtlicher Verhaltensordnung aufgezeigt werden.
a) Abhängigkeit der ökonomischen Handlungsbedingungen von der Ausgestaltung des sozialen Wirtschaftsraumes
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Der soziale Wirtschaftsraum beschreibt zunächst einen gesamtgesellschaftlichen Kontext und scheint damit über den Bereich einer rein rechtlichen Verhaltensordnung hinauszugehen. In modernen Gesellschaften sind die wesentlichen sozialen Bereiche allerdings rechtlich durchdrungen oder zumindest mit rechtlichen Regelwerken ausgestattet, die über hinreichende Rezeptionsstellen[397] verfügen, um die wesentlichen sozialen Faktizitäten erfassen zu können. Es liegt dabei im Wesen eines sozialen Wirtschaftsraums, dass innerhalb der Gemeinschaft divergierende Interessen zu einem Ausgleich gebracht werden müssen.
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Der Hoheitsgewalt steht freilich ein Gestaltungsspielraum zu, wie sie diesen Interessenausgleich herstellt: Der Staat kann ein Monopol bei der Überwachung der Wirtschaft in Anspruch nehmen und einzelnen Rechtsgütern – wie etwa der Gesundheit und Sicherheit seiner Bürger – einen absoluten Vorrang einräumen. Dies hat zur Voraussetzung, dass die wesentlichen Prozesse des Interessenausgleichs innerhalb staatlicher Institutionen verlaufen[398]. Der Hoheitsgewalt steht es freilich gleichermaßen offen, diesen Interessenausgleich außerhalb parlamentarischer oder hoheitlicher Verfahren zu moderieren[399]. Da die Verbindlichkeit und Bedeutung solcher außerparlamentarischer Verfahren nicht ohne Weiteres einsichtig ist, soll insoweit nachfolgend in zwei Exkursen exemplarisch zunächst die Bedeutung privater Regelwerke und sodann die Möglichkeit einer individuellen Spezifizierung der Verhaltensordnung verdeutlicht werden.
b) Exkurs 1: Die Bedeutung privater Regelwerke
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Beispielhaft für eine außerhalb von parlamentarischen Verfahren erfolgende Ausgestaltung des Wirtschaftsraums sind private Regelwerke. Angesprochen sind damit