Sanktionsbewehrte Aufsichtspflichten im internationalen Konzern. Andreas Minkoff
Literaturverzeichnis
Teil 1 Einführung
Inhaltsverzeichnis
B. Eingrenzung des Untersuchungsthemas
Teil 1 Einführung › A. Problemaufriss
A. Problemaufriss
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„Die Summen haben schon Dimensionen wie in den USA.“ stellte die Welt am Sonntag im Jahr 2011 angesichts der Bußgeldpraxis der Münchener Strafverfolgungsbehörden fest und fragte den Leiter der Staatsanwaltschaft München I, ob bereits amerikanische Verhältnisse erreicht seien.[1] In dem Zeitungsinterview hatte dieser zuvor geäußert, die Münchener Justiz könne bei Aufsummierung der letzten Jahre bald in die Größenordnung von insgesamt einer Milliarde Euro vorstoßen.
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„Nein. Wir setzen nur unsere deutsche Rechtslage um, nichts anderes. Dazu gehört auch das Ordnungswidrigkeitenrecht – vielleicht etwas unterschätzt.“[2]
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Denn gleichwohl das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht selten mit Regelungen über Bagatellvergehen assoziiert wird,[3] kommt ihm bei der Verfolgung und Ahndung von Wirtschaftskriminalität nicht nur angesichts der erwähnten Summen erhebliche Bedeutung zu. Drei Jahre vor diesem Interview hatte die Staatsanwaltschaft München I allein gegen die Siemens AG im Rahmen deren vielbeachteter und Ende 2006 bekannt gewordener Korruptionsaffäre eine Geldbuße in Höhe von 395 Millionen Euro verhängt.[4] Der Vorwurf in dem zu Grunde liegenden Bußgeldbescheid bezog sich auf die Verletzung des § 130 OWiG.[5] Die Norm regelt die Aufsichtspflichtverletzung in Unternehmen. Danach hat der Inhaber eines Unternehmens für eine gehörige Aufsicht Sorge zu tragen, um Pflichtverstöße im Unternehmen zu verhindern. Unter Einbeziehung der Gewinnabschöpfungsregeln drohen bei Zuwiderhandlung Geldbußen, die allein mit Blick auf die Münchener Bußgeldpraxis exorbitante Ausmaße erreichen können. Angesichts dieser Haftungsrisiken für Unternehmen und deren Verantwortungsträger verdient die Regelung eine intensive Betrachtung. Dabei rückt die Norm nicht nur zunehmend in das Blickfeld von Wissenschaft, unternehmerischer Praxis und vor allem von Verfolgungsbehörden.[6] Auch der Gesetzgeber unterstrich die Bedeutung des § 130 OWiG vor nicht allzu langer Zeit durch die Umsetzung der 8. GWB-Novelle, in deren Rahmen die maximale Bußgelddrohung jedenfalls für Unternehmen durch Anpassung der §§ 130, 30 OWiG verzehnfacht wurde.[7]
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Trotz der großen Bedeutung der Norm sind zahlreiche Fragen bis heute ungeklärt.[8] So richtet sich § 130 OWiG dem Wortlaut nach an den Inhaber eines Unternehmens oder Betriebes, worunter nach allgemeiner Auffassung deren Rechtsträger verstanden wird. Für den Fall eines Einzelunternehmens sind die Verantwortlichkeiten damit klar bestimmbar. Vor allem größere Unternehmen sind jedoch heute nur sehr selten als Einzelunternehmen organisiert. Auch wenn nicht zuletzt aufgrund der unvermeidbaren Unüberblickbarkeit und Dynamik konzernartiger Unternehmensverbindungen auf genaue Werte nicht zurückgegriffen werden kann, so wird vermutet, dass rund drei Viertel aller Aktiengesellschaften und etwa die Hälfte aller Gesellschaften mit beschränkter Haftung Teil von Unternehmensgruppen sind.[9] Allein die Deutsche Bank soll über 4000 Tochtergesellschaften verfügen.[10] Damit erlangt die Frage – vor allem auch in praktischer Hinsicht – Bedeutung, an wen sich die Aufsichtspflichten in Konzernsachverhalten richten. Ist nach § 130 OWiG jedes Konzernunternehmen für sich verantwortlich oder hat vielmehr die Konzernobergesellschaft für die Implementierung von Aufsichtsstrukturen in allen untergeordneten Tochter- und Enkelgesellschaften Sorge zu tragen? Angesichts der großen Verbreitung von Konzernverbindungen handelt es sich dabei nicht nur um eine Ergänzungsfrage, sondern vielmehr um einen entscheidenden Gesichtspunkt der Bußgeldpraxis und damit der Verfolgung und Ahndung von Wirtschaftskriminalität.[11]
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Es überrascht daher nicht, dass in der rechtswissenschaftlichen Diskussion Abhandlungen und Stellungnahmen zu diesem Themenkomplex – gerade auch in jüngster Vergangenheit – spürbar zugenommen haben.[12] Dabei ist jedoch ein weitreichender und auf die Bußgeldpraxis ausstrahlender Konsens nach wie vor nicht ersichtlich.[13] So nahm die Staatsanwaltschaft München I im Fall Siemens – freilich ohne vertiefte Auseinandersetzung mit der Adressatenfrage – die Konzernspitze für Verstöße bei Tochtergesellschaften wie selbstverständlich in die Pflicht.[14] Auch in der Rechtswissenschaft finden sich Stimmen, die für eine derart weitreichende Anwendbarkeit des § 130 OWiG plädieren. Ebenso findet sich jedoch auch die nicht nur vereinzelt vertretene Auffassung, nach der die Pflichten des § 130 OWiG nicht über die Grenzen der einzelnen Konzerngesellschaften hinaus reichen und eine Verantwortung der Konzernspitze damit in entsprechenden Fällen ausscheidet. Vervollständigt wird das Meinungsspektrum durch Autoren, die Mittelwege vorschlagen, indem sie eine konzernweite Anwendung der Norm an das Überwinden mehr oder weniger hoher Hürden koppeln. Einen solchen Mittelweg vertrat jüngst auch das OLG München in einer der seltenen höherinstanzlichen Stellungnahmen zu dieser Fragestellung.[15] Wenn bereits die Ergebnisse dieser mittlerweile vieldiskutierten Streitfrage durch eine solche Vielfalt gekennzeichnet sind, so gilt dies freilich erst recht für die dabei herangezogenen dogmatischen Legitimationsansätze – sofern sich denn überhaupt um sie bemüht wird. Die vorliegende Untersuchung kann daher nicht für sich beanspruchen, eine Nische zu besetzen, indem sie bisher unbeachtete Problemfragen erörtert. Sie kann aber für sich beanspruchen, sich bisher ungeklärten Rechtsfragen zu widmen.
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Weitestgehend Neuland betritt die Untersuchung überdies, sofern sie den Blick auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte richtet.[16] Die annähernd ausnahmslose Außerachtlassung überrascht angesichts der erheblichen Bedeutung, die internationale Konzernverbindungen in der heutigen Wirtschaftslandschaft einnehmen[17] und kann – wie zu zeigen sein wird – nicht auf die Banalität der dabei aufgeworfenen Rechtsfragen zurückgeführt werden. Dabei beschränkt kaum ein Unternehmensverbund seine geschäftlichen Aktivitäten auf das Inland.[18] Während auf der einen Seite inländische Konzernobergesellschaften über zahlreiche Tochter- und Enkelgesellschaften im Ausland verfügen, sind auf der anderen Seite viele deutsche Unternehmen Konzernobergesellschaften aus dem Ausland – wie etwa den USA – zuzuordnen.[19] Auch hier stellen sich im Falle der Pflichtverletzung in Tochtergesellschaften bedeutsame Fragen. Müssen sich inländische Konzernobergesellschaften für Pflichtverletzungen in ausländischen Tochtergesellschaften nach § 130 OWiG verantworten? Besteht für deutsche Verfolgungsbehörden daneben die Möglichkeit, gegen ausländische Konzernobergesellschaften Bußgelder zu verhängen, wenn in inländischen Tochtergesellschaften Pflichtverletzungen geschehen?
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Die aufgezeigten Problemstellungen führen damit zu den Ausgangsfragen der Untersuchung:
1. |
Richten sich die Aufsichtspflichten des § 130 OWiG im Unternehmensverbund |