Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts. Markus Wagner
Etwas anderes gilt im Mehrebenensystem: Aufgrund der Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme im Bundesstaat ist insoweit eine Wertungseinheit herzustellen; allerdings ist es selten, dass in solchen Fällen die Grenze zwischen Verfassungskonformität und Verfassungswidrigkeit in Frage steht.[369] In Bezug auf das Unionsrecht gilt gem. Art. 4 Abs. 3 EUV der Loyalitätsgrundsatz, wonach bei der Auslegung des Rechts der Mitgliedstaaten die Zielsetzungen des Unionsrechts zu berücksichtigen sind.[370]
c) Zwischenergebnis zur Akzessorietät des Rechts zum Recht
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Die Normen einer Rechtsordnung stehen nicht isoliert neben einander, sondern bilden ein komplexes System. Erst aus ihrem Zusammenspiel ergibt sich der Inhalt des Rechts, der gleichsam „hinter“ den Normen steht. Die Normen verhalten sich zum Recht wie Metallspäne auf einem Blatt Papier bei der Annäherung eines Magneten: Sie sind zwar nicht das Magnetfeld, bilden es aber – wenn auch nicht vollständig – ab. Die Systematik der Anordnung der Späne lässt aber auch für die Stellen, an denen sich kein Metall befindet, Rückschlüsse über den Verlauf des Magnetfelds zu.
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Diese Ordnung im Recht ist nicht erst vom Rechtsanwender herzustellen, sondern dem Recht immanent und dem Anwender somit vorgegeben. Dies folgt aus der notwendigen Einheit des Willens des hinter dem Recht stehenden Gesetzgebers. Daraus ergibt sich, dass die Beurteilung über rechtmäßig oder rechtswidrig nur einheitlich vor der ganzen Rechtsordnung erfolgen kann. Welche Konsequenzen die einzelnen Rechtsgebiete aus dieser Feststellung ziehen, ist ihnen jedoch jeweils nach Maßgabe der sie prägenden Prinzipien überlassen. Diese sind nicht notwendig miteinander in Einklang zu bringen.
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Keine Folge der Einheit der Rechtsordnung ist eine einheitliche Auslegung identischer Rechtsbegriffe in unterschiedlichen Normkontexten. Insoweit gilt als Grundsatz die Relativität der Rechtsbegriffe, sofern keine Legaldefinitionen existieren bzw. deren Anwendungsbereich beschränkt ist oder das Recht selbst eine speziellere Begriffsbildung vorgibt.
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Die Bezeichnung als „Akzessorietät des Rechts zum Recht“ ist insofern unrichtig, als der Akzessorietätsbegriff im hier verstandenen Sinne eine einseitige Abhängigkeitsbeziehung meint, die verschiedenen Rechtsnormen sich aber wechselseitig beeinflussen. Eine echte Akzessorietät besteht nur dort, wo das Recht selbst ein Abhängigkeitsverhältnis durch eine Verweisung etabliert oder sonst dem einen Rechtssatz den Vorrang gegenüber einem anderen einräumt.[371]
Terminologisch ebenfalls zweifelhaft ist die vielfach gebrauchte Formulierung der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“. Wie gezeigt, sind Widersprüche logisch nur im Gesetz, nicht aber im Recht denkbar. Um diese Erkenntnis nicht durch sprachliche Mittel zu konterkarieren, sollte von der „Einheit“ der Rechtsordnung gesprochen werden.
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Vor dem Hintergrund einer Wechselbezüglichkeit aller Normen einer Rechtsordnung und der daraus folgenden einheitlichen Rechtswidrigkeits- bzw. Rechtmäßigkeitsbeurteilung verliert auch die Differenzierung in verschiedene Teilrechtsgebiete weitestgehend ihre Relevanz. Bedeutung kommt ihr – rechtlich gesehen – nur zu, soweit sie einen gesetzlichen Niederschlag findet (z.B. in § 40 Abs. 1 VwGO). Unberührt bleibt natürlich die rein praktische Relevanz der Differenzierung in Bezug auf den Gegenstand von Prüfungen und die Bezeichnung von berufsspezifischen Spezialisierungen (etwa bei Fachanwälten etc.).
Anmerkungen
Rotsch ZIS 2007, S. 260.
Krüper ZJS 2012, S. 9 (10).
Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 778 Fn. 1 (Fassung der 2. Aufl. 1787).
So etwa bei R. Dreier NJW 1986, 890 (896), der allerdings selbst die Tragfähigkeit seiner Definition in Frage stellt. Eine Übersicht über weitere Definitionsversuche bieten Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, S. 17 f. in Fn. 44.
Rüthers/C. Fischer/Birk Rechtstheorie, Rn. 48.
Kaufmann Rechtsphilosophie, S. 136.
Kaufmann Rechtsphilosophie, S. 136.
Vgl. zur Schwierigkeit des Begriffs die Beiträge bei Bandmann u.a. Zum Wirklichkeitsbegriff. Krit. zur Sinnhaftigkeit der Diskussion Carnap Scheinprobleme, S. 60 ff.
Heisenberg Ordnung der Wirklichkeit, S. 59.
Exemplarisch hierzu Rotsch ZIS 2008, S. 1 ff. m.w.N.
Das bezeichnet auch Gusy (JZ 1991, S. 213 [214]) als einzigen methodisch gangbaren Ausweg.
Auf diesen Zusammenhang weist auch Jahr in: Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft, S. 14 (15 ff.) hin. Ähnlich Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 55 ff.
So auch Exner Sozialadäquanz, S. 111 ff.
Zur Zersplitterung der Lebensbereiche vgl. bereits oben Rn. 3.
Zutreffend Starck JZ 1972, S. 609 (612).
Zur Rezeption in der älteren Literatur vgl. die Nachweise bei Vesting Jura 2001, 299 in Fn. 1. Aus der neueren Literatur seien exemplarisch Theile Wirtschaftskriminalität, passim; Huber Systemtheorie des Rechts, passim; Kaufmann/Hassemer/U. Neumann-Büllesbach S. 428 ff., genannt.
Vgl. Damm Systemtheorie und Recht, passim m.w.N.
In