Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz / Verwaltungszustellungsgesetz. Eva-Maria Kremer
Äußerst wichtig für die Praxis ist die Berechnung der Jahresfrist. Hier gilt die höchstrichterliche Rechtsprechung: Die Frist beginnt, wenn der Behörde die für ihre Entscheidung erheblichen Tatsachen bekannt sind (BVerwG B 19.12.1984 – Gr. Sen. 1, 2/84, juris Rn. 17 ff. = NJW 1985, 819 (820 f.); BVerwG U 24.1.2001 – 8 C 8/00, juris Rn. 10 ff.; = NJW 2001, 1440 (1440 f.)). Das trifft auch auf die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X zu (BSG U 25.10.1995 – 5/4 RA 66/94, juris Rn. 15 = NVwZ 1996, 1248; BVerwG U 19.12.1995 – 5 C 10/94, juris Rn. 11 = NVwZ 1996, 1217 (1217)).
Hat ein Widerspruchsverfahren oder Verwaltungsgerichtsprozess stattgefunden, so beginnt die Jahresfrist erst nach der Unanfechtbarkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes zu laufen (BVerwG U 28.6.2012 – 2 C 13/11, juris Rn. 30).
Ferner ist bei der Erklärung des Widerrufs zu beachten:
Sollte es um die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gehen, der von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, gilt Folgendes (BVerwG U 20.12.1999 – 7 C 42/98, juris Rn. 12 ff. = NJW 2000, 1512 (1513)): Die Zuständigkeit richtet sich nach dem jeweils anzuwendenden Fachrecht. Fehlen derartige Regelungen, ist nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen die Behörde zuständig, die zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung für den Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsaktes sachlich zuständig wäre.
Der Widerrufsbescheid muss eine klare Aussage über den zahlenmäßigen Umfang der Höhe nach enthalten. Denn eine Zuwendungsbewilligung kann nicht nur dem Grunde nach widerrufen werden. Einen derartigen allgemeinen Widerruf kennt § 49 VwVfG nicht (BVerwG U 15.6.2000 – 5 C 20/99, juris Rn. 8 = NVwZ 2001, 556 (556 f.)). Sollte das dennoch fehlerhaft geschehen, tritt nach Ablauf der Jahresfrist für den Widerruf Verjährung ein.
7
Sowohl der Widerruf als auch der schriftliche Erstattungsbescheid sind Verwaltungsakte (§ 49a Abs. 1 VwVfG). Zweckmäßig und vollstreckungswirksam ist es, beide Verwaltungsakte in einem Bescheid zu verbinden und gleichzeitig die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO anzuordnen. Das gilt auch für die Rücknahme. Denn die sofortige Vollziehung des Erstattungsbescheides ist nur dann rechtmäßig, wenn auch der Widerruf sofort vollziehbar ist (vgl. zur Rücknahme VGH München B 15.5.1985 – 12 CS. 84 A. 2718, juris = NVwZ 1985, 663; Linhart, Bescheid, S. 18).
8
Ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage besteht nach der Rechtsprechung ein Zinsanspruch im Zusammenhang mit der Beamtenhaftung (BVerwG U 19.7.2001 – 2 C 42/00, juris Rn. 13 f. = NVwZ 2001, 1408). Hat der Beamte seinem Dienstherrn Gelder entzogen, so erfasst der gemäß § 75 BBG geschuldete Schadensersatz auch Zinsen auf das zu ersetzende Kapital.
9
Öffentlich-rechtliche Geldforderungen beruhen in allen Fällen auf einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis. Sie gehören also nicht zum Privatrecht.
10
Die Europäische Union kann auf die Vollstreckung von öffentlich-rechtlichen Geldforderungen Einfluss ausüben. Hieran sind die deutschen Behörden und Gerichte gebunden. Denn das Europarecht hat grundsätzlich Vorrang.
So entfällt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes auf dem Wirtschaftsgebiet der Subventionen. Bei der Rücknahme einer gemeinschaftsrechtswidrigen Subvention findet die Jahresfrist keine Anwendung (BVerwG U 23.4.1998 – 3 C 15/97, juris Rn. 20 ff. = NJW 1998, 3728 (3729 f.)).
Die Europäische Union kann durch ihre zuständige Kommission auch an die Bundesrepublik Deutschland das verbindliche Ersuchen richten, eine gemeinschaftsrechtswidrige Beihilfe zurückzufordern. Daraufhin hat die deutsche Behörde einen Rückerstattungsbescheid zu erlassen. Sie muss das Interesse der Europäischen Gemeinschaft an der Wiederherstellung der Wettbewerbsordnung berücksichtigen (EuGH U 20.3.1997 – Rs C – 24/95, juris Rn. 27 ff. = NVwZ 1998, 45 (46 ff.); OVG Berlin-Brandenburg B 7.11.2005 – 8 S. 93/05, juris Rn. 13 f. = NVwZ 2006, 104 (104 f.)).
Bei der Rückforderung einer gemeinschaftsrechtswidrigen Subvention greift das Unionsrecht sogar noch schärfer ein: Die Entscheidung eines nationalen Gerichts, welche die Rückforderung behindert, erlangt keine Rechtskraft (EuGH U 18.7.2007 – C-119/05, juris Rn. 63 = DVBl. 2007, 1167 (1169)).
11
Beispiele für öffentlich-rechtliche Geldforderungen:
– | Kosten nach Anwendung des Verwaltungszwanges ohne vorausgehenden Verwaltungsakt, auch bei unmittelbarer Ausführung einer Maßnahme durch sofortigen Vollzug: § 6 Abs. 2 VwVG (vgl. BVerwG U 21.11.1980 – 4 C 71/78, juris = DÖV 1981, 799; OVG Berlin U 3.11.1995 – 2 B 17/93, juris = MDR 1996, 430; OVG Münster B 19.4.1994 – 19 A 2644/92, juris = NWVBl. 1995, 394; OVG Lüneburg U 9.3.1970 – 5 A 124/68, juris L, OVGE Lüneburg 26, 437). |
– | Kosten der Ersatzvornahme: §§ 10, 13 Abs. 4 VwVG (dazu ausführlich OVG Berlin U 30.1.1981 – 2 B 75/78, juris = NJW 1981, 2484; bestätigt durch BVerwG U 13.4.1984 – 4 C 31/81, juris = NJW 1984, 2591. Diese sind keine öffentlichen Abgaben und Kosten des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (§ 10 Rn. 40). |
– | Zwangsgelder und Kosten der Ersatzzwangshaft: §§ 11, 16 VwVG. Diese sind keine öffentlichen Abgaben und Kosten des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ebenso Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG § 11 Rn. 1; Lemke, S. 350; Bader/Funke-Kaiser, § 80 Rn. 31; Kopp/Schenke, § 80 Rn. 63). |
– | Kosten des unmittelbaren Zwanges: § 12 VwVG. |
– | Kosten, Gebühren und Auslagen für Amtshandlungen nach dem Gesetz: § 19 Abs. 1 VwVG. |
– | Kosten der Unterbringung von Tieren: § 16a des Tierschutzgesetzes (Kluge, § 16a Rn. 29; Hirt/Maisack/Moritz, § 16a Rn. 19; VGH Mannheim B 27.11.2006 – 1 S. 1925/06, juris = NVwZ-RR 2007, 296; VGH München B 9.6.2005 – 25 CS. 05.295, juris = NVwZ-RR 2006, 305). |
– | Kosten für Tätigkeiten der Schornsteinfeger: § 20 des Schornsteinfeger-Handwerksgesetzes. |
– | Ausgleichsabgaben privater Arbeitgeber: § 160 des Sozialgesetzbuchs IX, früher § 11 des Schwerbehindertengesetzes (vgl. BVerwG U 13.12.2001 – 5 C 26/01, juris = BVerwGE 115, 312; BVerwG U 16.12.2004 – 5 C 70/03, juris = NJW 2005, 1674; VGH München B 22.11.1979 – 961 XII/78, juris = NJW 1980, 720 ). Die Verpflichtung zur Zahlung der Ausgleichsabgabe ist verfassungsgemäß (BVerfG U 26.5.1981 – 1 BvL 56, 57, 58/78, juris = BVerfGE 57, 139, 153 ff.; BVerfG B 1.10.2004 – 1 BvR 2221/03, juris = NJW 2005, 737; BVerfG B 10.11.2004 – 1 BvR 1785/01, juris = NVwZ-RR 2005, 321). |
– | Ausgleichsbeträge für Stellplätze nach Landesbaurecht (BVerfG B 5.3.2009 – 2 BvR 1824/05, juris = NVwZ 2009, 837). |
– |
|