Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
den Vorrang der Verträge und das von der Union auf Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH hingewiesen.[25]
25
Das Unionsrecht wird durch die Union selbst oder durch die Mitgliedstaaten vollzogen. Der direkte Vollzug ist lediglich in wenigen Bereichen, etwa im Wettbewerbsrecht,[26] vorgesehen. Der Regelfall ist vielmehr der indirekte Vollzug durch die Mitgliedstaaten. Sofern das Unionsrecht hierzu keine Vorgaben aufstellt, sind die Form- und Verfahrensvorschriften nach den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu bestimmen. Der Rückgriff auf die nationalen Vorschriften ist jedoch nur in dem zur Durchführung des Unionsrechts erforderlichen Umfang und nur insoweit möglich, als die Anwendung dieser Vorschriften die Tragweite und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt.[27]
a) Zuständigkeiten
26
Der Gerichtshof der Europäischen Union sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 EUV). Die Zuständigkeiten des EuGH und des EuG werden enumerativ genannt (vgl. Art. 251 ff. AEUV). Dem EuG können Fachgerichte beigeordnet werden, die in besonderen Sachgebieten gerichtliche Zuständigkeiten ausüben (Art. 257 AEUV). Der EuGH vereint letztinstanzliche Zuständigkeiten in allen wesentlichen Rechtszweigen.[28] Gerichte der Mitgliedstaaten haben insoweit keine Kontrollbefugnis.
b) Verfahrensarten
27
Die Verträge normieren verschiedene Verfahrensarten. Bei vermuteten Verstößen eines Mitgliedstaates gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen kommt das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) zur Anwendung. Mit der Nichtigkeitsklage (Art. 263 f. AEUV) kann die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte und Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank und Handlungen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten überwacht werden. Bei die Verträge verletzender Untätigkeit des europäischen Parlaments, des Europäischen Rates, des Rates, der Kommission oder der Europäische Zentralbank kann Untätigkeitsklage (Art. 265 f. AEUV) erhoben werden. Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) kommt zur Anwendung, wenn im Wege der Vorlage von Gerichten der Mitgliedstaaten über Fragen der Auslegung der Verträge und Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union zu entscheiden ist.[29] Unterinstanzliche Gerichte sind zur Vorlage berechtigt, Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, sind zur Vorlage verpflichtet (Art. 267 AEUV).
3. Kapitel Europäisches Gesundheitsrecht › B. Gesundheitsrecht in der Europäischen Union › III. Politiken und Maßnahmen der Union mit Bezug zum Gesundheitsrecht
a) Grundlagen
28
Kernaufgabe der Union ist die Schaffung und Gewährleistung eines Binnenmarktes. Dieser umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Dies sind die vier Grundfreiheiten der Union. Die Warenverkehrsfreiheit gilt für Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen sowie für Waren aus Drittländen, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden (Art. 28 Abs. 2, 29 AEUV). Sie umfasst mehrere Instrumente. Dazu zählen neben der Schaffung einer Zollunion (Art. 28 Abs. 1, 30–32 AEUV) vor allem das Verbot von mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und von Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 34, 35 AEUV).
b) Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen
29
Eine Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen ist nach der durch den EuGH entwickelten Dassonville-Formel[30] jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. Die Keck-Formel[31] schränkt diesen weiten Anwendungsbereich jedoch für einen Teilbereich wieder ein. So ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Im Gegensatz zu Produktmodalitäten wie Bezeichnung, Form, Etikettierung oder Verpackung einer Ware betreffen Verkaufsmodalitäten die Preise, Werbung, Verkaufsorte und Verkaufszeiten.
So ist Art. 34 AEUV unter Berücksichtigung der Keck-Formel nicht anwendbar auf eine von der Apothekerkammer eines Mitgliedstaats erlassene Standesregel, die den Apothekern die Werbung außerhalb der Apotheke für apothekenübliche Waren unabhängig von der Herkunft der betreffenden Ware verbietet (Rs. Hünermund u.a.).[32]
30
Eine Rechtfertigung kann sich jedoch aus Art. 36 AEUV ergeben. Hiernach stehen die Bestimmungen der Art. 34 und 35 AEUV Verboten oder Beschränkungen nicht entgegen, die unter anderem aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.
So ist ein nationales Verbot der Werbung für Arzneimittel, die im Inland trotz grundsätzlich bestehender Zulassungspflicht nicht zugelassen sind, die aber aus einem anderen Mitgliedstaat auf Einzelbestellung importiert werden dürfen, sofern sie bereits dort zulässigerweise in den Verkehr gebracht wurden, nach Art. 36 AEUV zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt (Rs. Ortscheit).[33]
31
Für unterschiedslos für einheimische wie für eingeführte Erzeugnisse geltende Regelungen ergibt sich eine weitere Rechtfertigungsmöglichkeit aus der durch den EuGH entwickelten Cassis-Formel.[34] Hiernach sind Hemmnisse, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen ergeben, gerechtfertigt, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses, unter anderem des Schutzes der öffentlichen Gesundheit[35] sowie des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, gerecht zu werden, wobei die Regelung in einem angemessenem Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen muss.
Entsprechend kann eine nationale Bestimmung, die den Verkauf von Kontaktlinsen in Handelsbetrieben verbietet, die nicht von Personen geleitet oder geführt werden, die die für die Ausübung des Berufes des Augenoptikers erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sein (Rs. Laboratoire de prothèses oculaires).[36]
32
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH[37] obliegt es den zuständigen nationalen Behörden, auf fundierter Grundlage[38] nachzuweisen, dass ihre Regelung erforderlich ist, um eines oder mehrere der in Art. 36 AEUV erwähnten Ziele zu erreichen oder zwingenden Erfordernissen zu genügen, und gegebenenfalls, dass das Inverkehrbringen der betreffenden Waren eine ernsthafte Gefahr darstellt, sowie, dass diese Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Ein Rückgriff auf die Rechtfertigung ist jedoch nicht möglich, sofern Richtlinien der Union bereits entsprechende Maßnahmen auf diesem Gebiet vorsehen.[39]
c) Entscheidungen des EuGH
33