Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
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Schließlich hat sich der EuGH auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts mit der Warenverkehrsfreiheit beschäftigt. Das Unionsrecht lässt die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten.[59] Zwar bestimmt mangels einer Harmonisierung auf Unionsebene das Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen das Recht oder die Verpflichtung auf Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit besteht, doch müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten.[60] Da ein Mitgliedstaat das Niveau, auf welchem er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will, selbst bestimmen kann, wird den Mitgliedstaaten ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuerkannt.[61]
Eine nationale Regelung, nach der ein Sozialversicherungsträger eines Mitgliedstaats einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hat, mit der Begründung versagt, dass der Erwerb im Ausland der vorherigen Genehmigung bedarf, verstößt gegen Art. 34 AEUV. Die Regelung ist nicht durch eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt, da die Pauschalerstattung für in anderen Mitgliedstaaten gekaufte Brillen hierauf keine Auswirkungen hat. Auch bietet der Kauf bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat Garantien, die denen gleichwertig sind, die beim Kauf bei einem Optiker im Inland gegeben sind, da die Anerkennung von Berufen Gegenstand von Unionsrichtlinien ist, so dass eine Rechtfertigung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ausscheidet (Rs. Decker).[62]
Im Rahmen eines nationalen Pflichtversicherungssystems erlassene Maßnahmen, durch die den Versicherten der Anspruch versagt wird, sich auf Kosten der Krankenversicherung mit namentlich genannten Arzneimitteln versorgen zu lassen, sind mit Art. 34 AEUV vereinbar, wenn bei der Auswahl der ausschließenden Arzneimittel eine Diskriminierung aufgrund des Ursprungs der Erzeugnisse unterbleibt und diese Auswahl auf objektiven Kriterien beruht. Es muss jedoch möglich sein, die Listen jederzeit zu ändern, wenn die Einhaltung der betreffenden Kriterien dies verlangt (Rs. Duphar u.a.).[63]
2. Freiheiten des Personen- und Dienstleistungsverkehrs
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Neben der Warenverkehrsfreiheit gehören auch die Freiheiten des Personen- und des Dienstleistungsverkehrs zu den Grundfreiheiten. Die Freiheit des Personenverkehrs unterteilt sich nach den Gesichtspunkten von selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit in die Niederlassungsfreiheit für Selbstständige (Art. 49–55 AEUV) und in die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45–48 AEUV). In engem systematischen und wirtschaftlichen Zusammenhang zur Niederlassungsfreiheit steht die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 56–62 AEUV).
a) Niederlassungsfreiheit
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Nach Art. 49 AEUV sind Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Bestimmungen des AEU-Vertrags verboten. Die Niederlassung wird nach ständiger Rechtsprechung des EuGH[64] als die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit definiert.
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Die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für eigene Angehörige (Art. 49 AEUV). Auch können sich Staatsangehörige gegenüber ihrem Heimatmitgliedstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn sie etwa in einem anderen Mitgliedstaat eine nach dem Unionsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben und nun wieder in ihren Mitgliedstaat zurückkehren.[65] Zwischenzeitlich verlangt Art. 49 AEUV nicht nur die Beseitigung jeder sich aus nationalen Regelungen oder Praktiken ergebenden Diskriminierung, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Staatsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.[66]
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Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein (Art. 52 Abs. 1 AEUV). Darüber hinaus ist eine Beschränkung nach der Rechtsprechung des EuGH[67] dann gerechtfertigt, wenn nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Für den Bereich der Gesundheit wird dabei berücksichtigt, dass ein Mitgliedstaat das Niveau, auf welchem er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will, selbst bestimmen kann. Den Mitgliedstaaten wird daher ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuerkannt.[68]
b) Arbeitnehmerfreizügigkeit
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Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45–48 AEUV) umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstiger Arbeitsbedingungen (Art. 45 Abs. 2 AEUV). Sie gibt den Arbeitnehmern das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Mitgliedstaates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben sowie nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben. Dabei ist der Begriff des Arbeitnehmers weit auszulegen. Als wesentliches Merkmal ist anzusehen, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.[69] Darüber hinaus verlangt Art. 45 AEUV nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen, sofern diese geeignet sind, einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit die Aufnahme einer unselbstständigen Tätigkeit zu behindern.[70]
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Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein (Art. 45 Abs. 3 AEUV). Darüber hinaus ist eine Beschränkung nach ständiger Rechtsprechung[71] dann gerechtfertigt, wenn nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
c) Freiheit des Dienstleistungsverkehrs
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Gemäß Art. 56 AEUV sind Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten nach Maßgabe der Bestimmungen des AEU-Vertrags verboten. Dienstleistungen sind selbstständige, in der Regel gegen Entgelt erbrachte Leistungen mit grenzüberschreitendem Unionsbezug, die zeitlich beschränkt sind und nicht von den Vorschriften über den freien Waren-, Kapital- oder Personenverkehr erfasst werden (vgl. Art. 57 AEUV). Die zeitliche Komponente der Tätigkeit ist maßgeblich für die aufgrund der unterschiedlichen Reichweite der Freiheiten bedeutsame Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit. Als Kriterien dienen die Dauer, Häufigkeit, Periodizität und Kontinuität der Tätigkeit.[72] Die aktive Dienstleistungsfreiheit umfasst die Leistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat, die passive Dienstleistungsfreiheit