Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit noch zu einer Gefährdung des Gesamtniveaus des Schutzes der öffentlichen Gesundheit (Rs. Müller-Fauré und van Riet).[94]
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Abweichend wird die Sachlage im stationären Bereich beurteilt. Hier machen die Mitgliedstaaten als Rechtfertigung für eine Beschränkung der Freiheiten eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit als zwingenden Grund des Allgemeininteresses geltend. Der EuGH folgt dieser Auffassung unter bestimmten Voraussetzungen.[95]
Art. 56 AEUV steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Übernahme der Kosten für die stationäre Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat von einer Genehmigung der zuständigen Krankenkasse abhängig macht, und nach der dies der Voraussetzung unterliegt, dass die medizinische Behandlung üblich und notwendig ist. Dies gilt jedoch nur, soweit die Üblichkeit so ausgelegt wird, dass die Genehmigung erteilt wird, wenn die betreffende Behandlung in der internationalen Medizin hinreichend erprobt und anerkannt ist, und die Genehmigung nur dann wegen fehlender medizinischer Notwendigkeit versagt wird, wenn die gleiche oder eine ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Vertragseinrichtung erlangt werden kann. Die Rechtfertigung ergibt sich aus der Notwendigkeit, dass die Zahl der Krankenhäuser, ihre geografische Verteilung, ihr Ausbau und ihre Einrichtungen sowie die Art der medizinischen Leistungen planbar sein müssen, um ein ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig in ausreichendem Maße zu gewährleisten und zugleich die Kosten zu beherrschen (Rs. Smits und Peerbooms).[96]
Ein Verstoß gegen Art. 56 AEUV liegt vor, wenn die Versagung einer Genehmigung auf die Existenz von Wartelisten gestützt wird, die dazu dienen, das Krankenhausangebot nach Maßgabe von klinischen Prioritäten zu planen und zu verwalten, ohne dass eine objektive medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands des Patienten erfolgt ist. Sofern der Zeitraum, der sich aus derartigen Wartelisten ergibt, den Rahmen überschreitet, der unter Berücksichtigung einer objektiven medizinischen Beurteilung vertretbar ist, kann die Krankenkasse die beantragte Genehmigung nicht unter Berufung auf die Existenz dieser Wartelisten, auf die Kostenfreiheit der im Rahmen des fraglichen nationalen Systems erbrachten Krankenhausbehandlungen, auf die Verpflichtung, für die Übernahme der Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigten Behandlung besondere finanzielle Mittel vorzusehen, oder aufgrund eines Vergleichs der Kosten dieser Behandlung mit den Kosten einer gleichwertigen Behandlung im zuständigen Mitgliedstaat versagen (Rs. Watts).[97]
Art. 56 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die jede Erstattung der Kosten der Behandlung der bei einem nationalen Sozialversicherungsträger Versicherten in Privatkliniken in einem anderen Mitgliedstaat, außer für die Behandlung von Kindern im Alter von bis zu 14 Jahren, ausschließt. Die Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit kann mit weniger einschneidenden und den freien Dienstleistungsverkehr besser wahrenden Maßnahmen ergriffen werden, wie etwa ein System der vorherigen Genehmigung, das den Anforderungen des Unionsrechts genügt oder die Festlegung von Tabellen für die Erstattung der Kosten (Rs. Stamatelaki).[98]
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Anderes gilt, wenn der Versicherte vom zuständigen Sozialversicherungsträger die Genehmigung zur stationären Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat erhalten hat.[99]
Art. 56 AEUV ist dahingehend auszulegen, dass dann, wenn die Erstattung von Kosten, die durch in einem Aufenthaltsmitgliedstaat erbrachte Krankenhausdienstleistungen veranlasst worden sind, die sich aus der Anwendung der in diesem Mitgliedstaat geltenden Regelung ergibt, niedriger ist als diejenige, die sich aus der Anwendung der im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit geltenden Rechtsvorschriften im Fall einer Krankenhauspflege in diesem Staat ergeben würde, dem Sozialversicherten vom zuständigen Träger eine ergänzende Erstattung zu gewähren ist (Rs. Vanbraekel u.a.).[100]
Der zuständige Sozialversicherungsträger, der darin eingewilligt hat, dass einer seiner Sozialversicherten eine medizinische Behandlung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat erhält, ist an die vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats autorisierten Ärzten getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Erforderlichkeit einer dringenden lebensnotwendigen Behandlung gebunden. Ebenso ist er an die therapeutische Entscheidung dieser Ärzte gebunden, und zwar auch dann, wenn diese Entscheidung darin besteht, den Betreffenden in einen anderen Staat zu verlegen. Die Behandlungskosten sind vom Träger des Aufenthaltmitgliedstaats nach dessen Vorschriften für Rechnung des Trägers des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit zu übernehmen (Rs. Keller).[101]
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Neben Problemstellungen des Sozialversicherungsrechts beschäftigte sich der EuGH vor allem mit Fragen der Berufsausübung in einem anderen Mitgliedstaat. Zwar bleiben die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung grundsätzlich befugt, die Ausübung von Tätigkeiten zu regeln, jedoch müssen sie ihre Befugnisse in diesem Bereich unter Beachtung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten ausüben.[102]
Art. 49 AEUV verwehrt es einem Mitgliedstaat nicht, das nationale Recht so auszulegen, dass im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler eines Patienten die objektive Untersuchung des Sehvermögens aus Gründen des Schutzes der Gesundheit einer Gruppe von besonders qualifizierten Berufstätigen wie den Augenärzten unter Ausschluss u.a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind, vorbehalten ist (Rs. Mac Quen u.a.).[103]
Art. 49 AEUV und Art. 56 AEUV stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach ein Mitgliedstaat die Ausübung der Tätigkeit des Heilpraktikers durch Personen ohne Arztdiplom verbietet. Die Regelung kann auch die Ausbildung für diese Tätigkeit verbieten, sofern dieses Verbot so angewendet wird, dass es nur solche Modalitäten der Ausbildungen betrifft, die geeignet sind, in der Öffentlichkeit Unklarheit darüber entstehen zu lassen, ob der Beruf des Heilpraktikers im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats rechtmäßig ausgeübt werden kann (Rs. Gräbner).[104]
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Von erheblicher Bedeutung ist auch der Bereich der Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen.[105]
Ein Mitgliedstaat verstößt gegen Art. 45, 49 und 56 AEUV, wenn er die Anerkennung ausländischer Diplome, die zur Ausübung medizinischer Hilfsberufe berechtigen, eigenen Staatsangehörigen vorbehält (Rs. Kommission/Italien).[106]
Ein Mitgliedstaat verstößt gegen Art. 49 AEUV, wenn er die Übergangs- bzw. Bestandsschutzregelungen, aufgrund derer die Psychotherapeuten eine Zulassung bzw. eine Genehmigung zur Berufsausübung unabhängig von den geltenden Zulassungsbestimmungen erhalten, lediglich auf die Psychotherapeuten anwendet, die ihre Tätigkeit in einer Region dieses Mitgliedstaats im Rahmen der innerstaatlichen gesetzlichen Krankenkassen ausgeübt haben, und die vergleichbare bzw. gleichartige Berufstätigkeit von Psychotherapeuten in anderen Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt (Rs. Kommission/Deutschland).[107]
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Zu den diesbezüglichen Richtlinien sind zahlreiche Entscheidungen des EuGH ergangen.[108] Besondere Beachtung verdient dabei auch die Frage der Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen aus den zwischenzeitlich beigetretenen Mitgliedstaaten sowie aus Drittstaaten.[109]
Die nach der [ehemaligen] Richtlinie 93/16/EWG zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise erforderliche ärztliche Ausbildung kann – auch überwiegend – aus einer in einem Drittland erhaltenen Ausbildung bestehen, sofern die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, die das Diplom erteilt, diese Ausbildung anzuerkennen und dementsprechend festzustellen in der Lage ist, dass diese Ausbildung tatsächlich zur Erfüllung der in dieser Richtlinie normierten Anforderungen an die ärztliche Ausbildung beiträgt (Rs. Tennah-Durez).[110]
Die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats sind an eine nach der [ehemaligen] Richtlinie 93/16/EWG ausgestellte Bescheinigung, wonach