Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
Art. 56 AEUV nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig entsprechende Dienstleistungen erbringt, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.[73]
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Eine Beschränkung der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein (Art. 62 AEUV i.V.m. Art. 52 Abs. 1 AEUV). Darüber hinaus ist eine Beschränkung nach ständiger Rechtsprechung[74] dann gerechtfertigt, wenn nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch die Verträge garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
d) Richtlinien zu den Freiheiten des Personen- und Dienstleistungsverkehrs
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Um die Aufnahme und Ausübung selbstständiger wie unselbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erlassen das Europäische Parlament und der Rat Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie für Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 46, 53, 62 AEUV). Schon früh wurden für zahlreiche Berufsgruppen Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung erlassen, so für Ärzte,[75] Zahnärzte,[76] Tierärzte,[77] Apotheker,[78] Hebammen[79] sowie für Krankenschwestern und Krankenpfleger.[80] Ferner konnte eine Anerkennung nicht alleine deshalb verwehrt werden, weil eine Richtlinie für einen bestimmten Beruf noch nicht erlassen wurde.[81] Um von Einzelrichtlinien nicht erfasste Berufsgruppen zusammenzuführen, wurden in weiterer Folge allgemeine Richtlinien[82] erlassen, die wiederholt geändert und angepasst wurden. Zwischenzeitlich ist die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen[83] in Kraft getreten. Diese hat die vorgenannten Richtlinien ersetzt. Damit konnte durch eine Vereinheitlichung der geltenden Grundsätze eine Neuordnung und Straffung der bisherigen Bestimmungen erreicht werden (vgl. Erwägungsgrund 9 der Richtlinie 2005/36/EG).
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Zur Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurden auf Grundlage von Art. 45, 46 und 48 AEUV mehrere Rechtsakte erlassen. Hierzu zählen vor allem die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer[84] sowie die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.[85] Diese lösten die über viele Jahre geltenden Verordnungen (EWG) Nr. 1612/68[86] und Nr. 1408/71[87] ab. Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen (Art. 2 Abs. 1 der Verordnung). Die Verordnung betrifft Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit in Bezug auf Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft, Invalidität, Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen und Familienleistungen (Art. 3 Abs. 1 der Verordnung).
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Zur Herstellung der Niederlassungsfreiheit für Dienstleistungserbringer und den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ist am 28.12.2006 die Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt[88] in Kraft getreten. Die Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden (Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie). Während der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Kommission auch Gesundheitsdienstleistungen umfasste, wurden diese im weiteren Verlauf der Beratungen vom Anwendungsbereich wieder herausgenommen. Gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. f der Richtlinie findet diese auf Gesundheitsdienstleistungen keine Anwendung. Vielmehr sollte der Gesundheitsbereich in einer separaten Richtlinie behandelt werden.
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Hierzu hatte die Kommission am 2.7.2008 einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung[89] vorgelegt. Nachdem das Europäische Parlament die Richtlinie bereits im April 2009 in erster Lesung mit Änderungen angenommen hatte, konnte der Rat im Dezember 2009 zunächst keine politische Einigung erzielen. Im Juni 2010 einigte sich der Rat auf einen Kompromiss, der durch das Europäische Parlament im Januar 2011 in zweiter Lesung angenommen wurde. Im April 2011 ist die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung[90] in Kraft getreten. Ziel der Richtlinie ist es, den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zu erleichtern und damit die Patientenmobilität innerhalb der EU gewährleisten (Ziff. 10 der Erwägungsgründe, Art. 1 der Richtlinie). Die Richtlinie regelt die Rechte von Patienten im Hinblick auf den Zugang zu Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat und die entsprechende Kostenerstattung.
e) Entscheidungen des EuGH
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Eine vollständige Darstellung der Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Freiheiten des Personen- und Dienstleistungsverkehrs mit Bezug zum Gesundheitsrecht ist aufgrund der Vielzahl der Entscheidungen nicht möglich. Die folgende Auswahl kann nur eine Übersicht über die Entwicklungslinien der Rechtsprechung geben. Im Rahmen des Sozialversicherungsrechts bestimmt mangels einer Harmonisierung auf Unionsebene das Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen das Recht oder die Pflicht auf Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit besteht. Doch müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten.[91] Da der Mitgliedstaat das Niveau, auf welchem er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will, bestimmen kann und sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, wird den Mitgliedstaaten aber ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuerkannt (siehe Rn. 45). Von Bedeutung ist insbesondere die Frage der Übernahme der Kosten ärztlicher Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat. Hierbei ist zwischen ambulanten und stationären Behandlungen zu unterscheiden.
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Im ambulanten Bereich haben sozialversicherte Patienten eines Mitgliedstaates das Recht, ohne vorherige Genehmigung des zuständigen Sozialversicherungsträgers in anderen Mitgliedstaaten ambulante Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen. Die entstehenden Kosten erhalten sie vom Sozialversicherungsträger ihres Mitgliedstaates nach den dort geltenden Tarifen erstattet.[92]
Eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für eine ambulante Zahnbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des zuständigen Sozialversicherungsträgers abhängig macht, verstößt gegen Art. 56 AEUV. Eine solche Regelung hält die Versicherten davon ab, sich an Ärzte in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stellt sowohl für diese wie für ihre Patienten eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Die Kostenerstattung hat keine wesentlichen Auswirkungen auf das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit. Auch ist eine Rechtfertigung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit nicht möglich, da die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung der Tätigkeiten des Zahnarztes Gegenstand von Richtlinien sind (Rs. Kohll).[93]
Art. 56 AEUV steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die die Übernahme der Kosten für eine Versorgung, die in einem anderen Mitgliedstaat außerhalb eines Krankenhauses durch eine Person oder Einrichtung erfolgt, davon abhängig machen, dass die betreffende Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt, auch wenn die fraglichen Rechtsvorschriften ein Sachleistungssystem einführen, in dessen Rahmen die Versicherten Anspruch nicht auf die Erstattung der Kosten für die medizinische Versorgung, sondern auf die Versorgung